Sie sind stark in der Ukraine-Hilfe vor Ort involviert. Wo sind Sie aktuell?
Aktuell befinde ich mich in Deutschland. Anfang März sind ein Schweizer Kollege und ich zu unseren Partnern von Vostok SOS in die Westukraine gefahren und haben dort die ersten drei Monate nach Beginn des russischen Angriffskrieges gearbeitet. Nun stehen viele Aufgaben in Deutschland und der Schweiz an. Für den Winter werde ich aber voraussichtlich wieder in die Ukraine reisen.
Was sind die grössten Herausforderungen vor Ort, bei denen Sie und Libereco unterstützen können?
Die größten Herausforderungen sind aktuell Evakuierungen aus Gebieten mit Beschuss und die Sicherstellung der Überlebensgrundlage von Millionen Menschen in der Ukraine, die unter den Folgen des Krieges leiden. Trotz Bemühungen aller Organisationen gibt es nicht genügend Lebensmittel, zudem hat mittlerweile die internationale Hilfe merklich abgenommen. Viele Binnengeflüchtete haben keine gesicherte Unterkunft. Deshalb setzen wir Projekte um, die genau diese Bedarfe decken.
Trotz Bemühungen aller Organisationen gibt es nicht genügend Lebensmittel.
Ira Ganzhorn, Libereco
Besonders problematisch ist die Evakuierung von älteren und pflegebedürftigen Menschen. Nicht wenige haben bereits die Grauen des Zweiten Weltkrieges erleben müssen, nun sind sie im hohen Alter erneut einem Krieg ausgesetzt. Hier unterstützen wir mit der Bereitstellung und Finanzierung von Evakuierungsfahrzeugen und der Unterbringung der Menschen in Deutschland und der Schweiz.
Der Krieg dauert bereits mehr als sechs Monate. Merken Sie eine Veränderung in der Wahrnehmung? Sinkt in der Schweiz die Bereitschaft, Ihre Tätigkeit zu unterstützen?
Unserer Wahrnehmung nach haben sich viele Menschen bereits an den Angriffskrieg und die schrecklichen Bilder aus der Ukraine gewöhnt. Nach so einer langen Zeitspanne ist es auch verständlich, dass das eigene Leben und die damit verbundenen Herausforderungen wieder mehr in den Vordergrund rücken. Dies darf auch auf gar keinen Fall gegeneinander aufgewogen oder gar ausgespielt werden.
Nichtsdestotrotz erfahren wir nach wie vor viel Unterstützung aus der Gesellschaft. So haben sich zum ukrainischen Unabhängigkeitstag weltweit zehntausende Menschen versammelt, um ihre Solidarität mit der Ukraine zu bekunden. Und auch wir als Verein haben einen stetigen Zuwachs von Ehrenamtlichen, die aktiv mit anpacken und neue Ideen miteinbringen.
Wie sieht es in der Ukraine selbst aus?
In der Ukraine ist die Motivation und Hilfsbereitschaft ungebrochen – nicht umsonst zählt die ukrainische Zivilgesellschaft aktuell zu einer der stärksten und resilientesten. Der Wille, um die Freiheit zu kämpfen, zeigt sich jeden Tag. Aber auch hier werden die Menschen müde und die hohe Belastung zehrt an allen. Besonders der August war anstrengend. Es standen viele neue Herausforderungen an. Das neue Schuljahr und auch der Ausblick auf den nahenden Winter besorgten uns alle.
Trotz alledem stehen die Menschen jeden Tag auf und halten die Infrastruktur des Landes am Laufen. Dies ist eine beeindruckende und inspirierende Haltung der Gesellschaft.
Ira Ganzhorn, Libereco
Neben der hohen Arbeitsbelastung muss die Bevölkerung persönliche Schicksalsschläge verkraften. So sind zum Beispiel Ehemänner, Brüder und Väter bei der Armee. Angehörige sind in Städten und Regionen, die angegriffen werden und teils unter ständigem russischen Beschuss stehen. Millionen Menschen haben die Zerstörung ihrer Heimatorte mit ansehen müssen und geliebte Menschen beerdigen müssen. Das Team von Vostok SOS hat bereits zwei Büros verloren, in Mariupol und Sjewjerodonezk. Fast das gesamte Team, inklusive der Kinder, musste am 24. Februar fliehen. Trotz alledem stehen die Menschen jeden Tag auf und halten die Infrastruktur des Landes am Laufen. Dies ist eine beeindruckende und inspirierende Haltung der Gesellschaft.
Welche Perspektiven und Hoffnung haben Sie?
Als Organisation hoffen wir, dass wir unseren Partnern vor Ort eine gute Stütze sind. Langfristig hoffen wir darauf, dass sich so bald wie möglich keine russischen Truppen mehr in der Ukraine befinden und wir innerhalb der Landesgrenzen schnell mit dem Wiederaufbau beginnen können. Unser Ziel ist es, die ukrainische Zivilgesellschaft endlich wieder in Friedenszeiten erleben zu dürfen. Zugleich müssen wir auch die Probleme in Deutschland im Blick haben, besonders jetzt mit den steigenden Preisen und dem Winter. Wir hoffen, dass trotz dieser Schwierigkeit die Solidarität mit der Ukraine nicht schwindet. Wir dürfen nicht vergessen, die Ursache für die Probleme hierzulande wie den ist dieselbe: die russische Staatsführung um Wladimir Putin.
Ich persönlich hoffe jeden Tag darauf, meine Heimatstadt und die Stadt meiner Kindheit, Kharkiv, besuchen zu können. Kharkiv ist seit dem 24. Februar fast täglich unter Beschuss. Im April berichtete eine Journalistin aus dem Stadtteil in dem ich aufgewachsen bin, dort sah es bereits nach zwei Monaten Invasion nicht mehr so aus wie früher. Der gesamte Stadtteil war in Schutt und Asche gelegt worden. Die Fahrt nach Kharkiv haben wir zusammen mit einer Kollegin, ebenfalls gebürtig von dort, an vielen gemeinsamen Abenden geplant. Oft saßen wir zusammen und haben über all die Orte gesprochen, die wir eines Tages wieder besuchen können. Solche Momente halten für uns die Hoffnung am Leben.
Sie arbeiten mit Vostok SOS zusammen, einer gemeinnützigen Stiftung in der Ukraine. Wie ist diese Zusammenarbeit entstanden?
Vostok SOS ist bereits seit seiner Gründung 2015 die wichtigste ukrainische Partnerorganisation von Libereco. Viele der Gründerinnen und Gründer kommen wie wir aus dem Menschenrechts-Bereich. Wir kannten sie bereits vorher durch unser Engagement in Belarus. Nach der Annexion der Krim und dem Kriegsbeginn im Donbas 2014 fragten wir bei ihnen sofort nach, wie wir helfen konnten. Aus ersten, vergleichsweise bescheidenen Spendensammlungen ist mittlerweile eine feste Partnerschaft entstanden, die weit über die humanitäre Hilfe hinausgeht.
Vostok SOS ist eine der wenigen Organisationen in der Ukraine, die seit Jahren Hilfsgüter bis in die entlegensten Dörfer und teils auch gefährliche Gebiete bringt, auch weil sie über ein breites Netzwerk in der Region verfügt.
In welchen Bereichen engagiert sich Vostok SOS?
Aktuell engagiert sich Vostok SOS in den Bereichen Evakuierung, Unterbringung von pflegebedürftigen Menschen, Ausstattung von Notunterkünften, psychologischer Betreuung und Verteilung von humanitärer Hilfe. Ein großer Schwerpunkt liegt auch in der Dokumentation der Menschenrechtsverbrechen, die im Krieg passieren. Auch wird im Bereich Bildung gearbeitet: Schulen, Lehrkräfte und Schulkinder werden mit dem Notwendigsten unterstützt, um das neue Schuljahr gut starten zu können.
Die aktuellen Zahlen der Weltgesundheitsorganisation legen nahe, dass rund vier Millionen Menschen ohne winterfeste Unterkunft bleiben.
Ira Ganzhorn, Libereco
Seit dem 24. Februar sind beide Organisationen, Vostok SOS und Libereco, enorm gewachsen, um den Bedarfen im Land gerecht zu werden. Das Markenzeichen von Vostok SOS war es schon immer, dort tätig zu werden, wo staatliche Strukturen, bspw. aus Ermangelung an Ressourcen, zunächst nicht greifen. Dies zeigte sich auch wieder in den letzten sechs Monaten. Unser Markenzeichen ist, wie der Namenszusatz «Partnership for Human Rights» zeigt, dass wir sehr eng mit lokalen Partnern zusammenarbeiten und uns ausschließlich an ihren Bedarfen orientieren. Diese Kombination und das bewährte Vertrauensverhältnis machen sich nun bezahlt.
Wie stark wird die kalte Jahreszeit zu einer zusätzlichen Herausforderung?
Die aktuellen Zahlen der Weltgesundheitsorganisation legen nahe, dass rund vier Millionen Menschen ohne winterfeste Unterkunft bleiben. Dies ist eine Herausforderung, die kaum zu bewältigen ist und uns große Sorgen bereitet. Wir werden zu Beginn des Herbsts neue Unterkünfte ausstatten und sind just zusammen mit deutschen Behörden dabei, Menschen mit Pflegebedarf in Deutschland unterzubringen. So wollen wir zusätzliche Plätze in bereits vorhandenen Unterkünften schaffen und die Gesamtzahl der Plätze vor Ort in der Ukraine maximieren. Der Winter wird lang und kräftezehrend. Ein Ausblick, auf den wir uns jetzt schon wappnen und vorbereiten müssen.
Wie kann aus der Schweiz am effektivsten geholfen werden?
Wie so oft sind finanzielle Spenden am effektivsten. Die Finanzierung der Projekte muss sichergestellt werden, vor allem langfristig. Aber auch aktive Ehrenamtliche, die verschiedenste Aufgaben übernehmen können, sind uns eine große Hilfe. Viele Projekte sind mit einem hohen organisatorischen Aufwand verbunden. Jede helfende Hand ist da bereits eine Erleichterung. Bei allem Engagement muss aber auch darauf geachtet werden, dass sich die Ehrenamtlichen nicht überarbeiten und bei Kräften, sowohl körperlich als auch seelisch, bleiben.
Sie sind auch in Belarus engagiert. Wie hat sich die Situation in diesem Land mit dem Krieg in der Ukraine verändert?
Die Situation ist angespannter denn je. Das Regime unterdrückt die Zivilgesellschaft auf brutale Art und Weise. Eine beispiellose Verhaftungswelle rollt seit dem Sommer 2020 durch das Land. Ebenso wurde das Gesetz zur Todesstrafe verschärft. Viele belarussische Aktivist:innen bangen um ihre Sicherheit und wollen nur noch raus aus dem Land.