Ira Ganzhorn unterwegs in Kharkiv mit Yevhenii Pushkarov, Head of Organisation von Help Kharkiv aus Kharkiv.

Libe­reco: Nach­hal­tige Hilfe für die Menschen in der Ukraine

Vor einem Jahr hat Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine gestartet. Mit Libereco hilft Ira Ganzhorn den Menschen vor Ort. Sie selbst stammt aus Kharkiv und hat die Stadt nahe der Front kürzlich besucht. Nachdem sie im Herbst mit uns vor den anstehenden Wintermonaten sprach berichtet sie über die Hilfe für die Menschen und erzählt von ihrer Familie.

Sie stam­men aus Kharkiv und haben die Stadt nahe der Front anfangs Jahr besucht. Wie ist die Situation?

Die Stra­ßen sind sehr leer, es ist dauer­haft dunkel aufgrund der Angriffe auf die Ener­gie­ver­sor­gung. Kharkiv ist die zweit­größte Stadt des Landes, dennoch erscheint die Stadt oft wie ausge­stor­ben. Im Zentrum und vielen Wohn­be­zir­ken ist die Zerstö­rung nach wie vor sehr offen­sicht­lich: an den Gebäu­den sind Einschuss­lö­cher sicht­bar. Dächer, Fens­ter und ganze Wohn­blö­cke fehlen, weil sie von Rake­ten zerstört worden sind. Der ehemals beliebte und sehr belebte Bara­bas­hovo Markt ist nun von ausge­brann­ten Markt­rei­hen und Rake­ten­kra­tern gezeichnet.

Häufig hören wir erst die Einschläge und wenige Sekun­den später den Luftalarm.

Ira Ganz­horn, Huma­ni­ta­rian Aid Offi­cer, Libereco 

Die verblei­ben­den Kund:innen und Verkäufer:innen sagen, dass sie dort nicht weni­ger Angst haben als zuhause. Denn die Rake­ten können über­all und jeder­zeit einschla­gen. Die nahe Grenze zu Russ­land, dem Aggres­sor, macht den Luft­alarm oft obso­let: die Rake­ten legen die kurze Entfer­nung von 40 bis 60 Kilo­me­ter so schnell zurück, dass ein Alarm nicht mehr recht­zei­tig ausge­löst werden kann. Häufig hören wir erst die Einschläge und wenige Sekun­den später den Luftalarm.

Seit einem Jahr leiden die Menschen in der Ukraine unter dem russi­schen Angriffs­krieg. Wie können Sie als Hilfs­or­ga­ni­sa­tion heute am wirkungs­volls­ten helfen?

Am wirkungs­volls­ten helfen wir, in dem wir die Situa­tion sehr genau im Blick behal­ten und uns täglich zu den Gescheh­nis­sen infor­mie­ren. Das hilft uns sehr dabei, Risi­ken einschät­zen zu können. Auch der enge Kontakt und Austausch über Bedarfe in den einzel­nen Regio­nen ist von unschätz­ba­rem Wert, denn nur so können wir verste­hen, welche Hilfe wann und wo benö­tigt wird – und was gerade eher weni­ger wich­tig ist. Auch der Aspekt der Konti­nui­tät und Nach­hal­tig­keit ist entschei­dend: Wir arbei­ten bereits seit 2014 in der Ukraine und werden auch weiter­hin fest an der Seite der Menschen und der Zivil­ge­sell­schaft des Landes. Selbst­ver­ständ­lich auch dann, wenn der inter­na­tio­nale Fokus schon längst wieder auf der nächs­ten oder über­nächs­ten Krise liegt.

Libe­reco enga­giert sich vor allem in abge­le­ge­nen Regio­nen, wo keine andere Hilfe verfüg­bar ist. Wie ist die Situa­tion dieser Menschen abseits des öffent­li­chen Interesses?

Dank unse­rer gemein­schaft­li­chen Bemü­hun­gen konn­ten wir diese Themen bisher sehr präsent halten. So arbei­ten wir bspw. für Menschen mit Pfle­ge­be­darf eng mit der Bundes­kon­takt­stelle, Koor­di­nie­rungs­stelle für Menschen mit Pfle­ge­be­darf des deut­schen Bundes­so­zial- und das Bundes­ge­sund­heits­mi­nis­te­rium, zusam­men und tauschen uns regel­mä­ßig über die Situa­tion vor Ort aus. Die Situa­tion für Menschen in abge­le­ge­nen Regio­nen ist ange­spannt und unsi­cher. Der Zugang zu Ressour­cen wie etwa Strom, medi­zi­ni­scher Versor­gung, Lebens­mit­tel, etc. ist extrem erschwert. Hinzu kommt der psycho­lo­gi­sche Aspekt: Beson­ders ältere Menschen haben Angst davor, evaku­iert zu werden. Oftmals haben sie den Groß­teil ihres Lebens in ein und demsel­ben Haus oder Ort verbracht. Sie wissen nicht, was sie in einer neuen Stadt erwar­tet. Auch möch­ten sie nieman­dem zur Last fallen.

Beson­ders ältere Menschen haben Angst davor, evaku­iert zu werden. Oftmals haben sie den Groß­teil ihres Lebens in ein und demsel­ben Haus oder Ort verbracht.

Ira Ganz­horn

Solche Gedan­ken­gänge kenne ich auch aus meiner eige­nen Fami­lie. Meine Tante und mein Onkel sind weit über 80 und leben in Kharkiv. Sie wollen sich partout nicht evaku­ie­ren lassen, auch wenn ich es ihnen schon oft ange­bo­ten habe. Lieber setzen sie sich der Lebens­ge­fahr in ihrer Heimat aus, als even­tu­ell an einem ihnen unbe­kann­ten Ort zu ster­ben. Diese Art von Gesprä­chen haben wir alle schon unzäh­lige Male geführt, immer mit dem glei­chen Ergebnis.

Ira Ganz­horn: «Meine Tante und mein Onkel sind weit über 80 und leben in Kharkiv. Sie wollen sich partout nicht evaku­ie­ren lassen». Ein Leben in Kharkkiv: Valen­tina und Boris halten Fotos von sich selbst als junge Erwachsene. 

Genau deshalb tauschen wir uns regel­mä­ßig aus und erar­bei­ten Programme, die genau an diesen Proble­men anset­zen. Dennoch bleibt es wich­tig, sich regel­mä­ßig auszu­tau­schen und Programme aufzu­set­zen, die genau an diesen Proble­men ansetzen. 

Die kalten Winter­mo­nate wurden im Vorfeld als beson­ders heraus­for­dernd erach­tet. Haben sich die Befürch­tun­gen bewahrheitet?

Diese Befürch­tun­gen haben sich in der Tat bewahr­hei­tet und sogar noch verschlim­mert. Russ­lands gezielte Angriffe auf die ukrai­ni­sche Ener­gie­ver­sor­gung seit Okto­ber 2022 haben die Lage dras­tisch verschärft. In den Mona­ten Novem­ber und Dezem­ber waren Millio­nen ukrai­ni­sche Haus­halte von Strom­aus­fäl­len betrof­fen. Mit diesen Ausfäl­len geht einher, dass Menschen ihre Wohnung nicht heizen und nicht kochen können. Im Grunde sind alle Alltags­auf­ga­ben nur unter sehr erschwer­ten Bedin­gun­gen möglich. Zusam­men mit unse­rer Part­ner­or­ga­ni­sa­tion Help Kharkiv haben wir beispiels­weise in der Kharkivska und Donezka Oblast in Dörfern gezielt Brenn­holz verteilt und Öfen instal­liert. Insge­samt konn­ten wir bisher rund 450 Haus­halte mit Brenn­holz und 100 Haus­halte mit Öfen ausstat­ten und so eine sichere Wärme­ver­sor­gung herstellen

Wie hat sich die Hilfe von Libe­reco in diesem Jahr verändert? 

Nach nun einem Jahr ist unsere Arbeit sehr viel struk­tu­rier­ter und verläuft in sehr geplan­ten und routi­nier­ten Bahnen. In den Mona­ten unmit­tel­bar nach Beginn der Inva­sion waren wir sehr damit beschäf­tigt immer die akutes­ten Krisen zu lösen und konn­ten viel weni­ger in die Zukunft planen – das hat sich stark verän­dert. Wir agie­ren nun viel mehr, als immer nur auf externe Ereig­nisse zu reagie­ren. Das macht unsere Hilfe nach­hal­ti­ger und geord­ne­ter. Auch haben wir uns, so schlimm es auch klingt, an den Kriegs­all­tag gewöhnt. Auch das hat unsere Arbeit verän­dert. Zwar lassen die schreck­li­chen Bilder und Erzäh­lun­gen uns niemals kalt, aber nun können wir sehr viel besser damit umgehen.

Sie setzen sich insbe­son­dere für die Menschen­rechte ein. Welches sind die Heraus­for­de­run­gen in der Ukraine?

Ein Angriffs­krieg ist der funda­men­talste Verstoß gegen kollek­tive Menschen­rechte. Zudem sehen wir seit Beginn der bruta­len russi­schen Inva­sion so viele Menschen­rechts­ver­let­zun­gen auf indi­vi­du­el­ler Ebene, dass man mit dem Zählen eigent­lich nicht hinter­her­kommt. Die Heraus­for­de­rung besteht nun darin, möglichst viele dieser poten­ti­el­len Kriegs­ver­bre­chen und Verbre­chen gegen die Mensch­lich­keit zu doku­men­tie­ren – und das zugleich so genau wie es nur geht. Zahl­rei­che ukrai­ni­sche und inter­na­tio­nale Initia­ti­ven, sowohl staat­li­che als auch von Insti­tu­tio­nen und aus der Zivil­ge­sell­schaft, sammeln seit vergan­ge­nem Februar diese Infor­ma­tio­nen, viele von ihnen auch schon seit Kriegs­be­ginn 2014. Ich selbst habe erst Ende Novem­ber in Tscher­ni­hiw eine Menschen­rechts­kon­fe­renz zu diesem Thema besucht. Hier haben sich Staats­an­walt­schaft, Richter:innen und Menschenrechtsaktivist:innen vier Tage lang ausge­tauscht und gemein­sam an neuen Ideen und Formen der Doku­men­ta­tion gearbeitet.

Wir entwi­ckeln gemein­sam Projekt­ideen für die Zukunft und verlie­ren uns auch ab und zu in all den Ideen, die wir nach dem Krieg umset­zen werden.

Ira Ganz­horn

Bei Ihrer Ukraine-Hilfe arbei­ten Sie mit Part­nern. Wie hat sich die Zusam­men­ar­beit entwickelt?

Unsere Zusam­men­ar­beit mit den Part­ner­or­ga­ni­sa­tio­nen hat sich sehr posi­tiv entwi­ckelt, mit sehr vielen unse­rer Kooperationspartner:innen verbin­det mich mitt­ler­weile eine gute Freund­schaft. Das hängt natür­lich damit zusam­men, dass ich auch immer wieder vor Ort bin und sie besu­che und aktiv mitar­beite – das stärkt das Vertrau­ens­ver­hält­nis beider­seits unge­mein. Unser Austausch ist sehr freund­schaft­lich, wir entwi­ckeln gemein­sam Projekt­ideen für die Zukunft und verlie­ren uns auch ab und zu in all den Ideen, die wir nach dem Krieg umset­zen werden.

Wie nehmen die Menschen in der Ukraine die Diskus­sio­nen in den west­li­chen Ländern um den Krieg wahr?

Die Menschen in der Ukraine sind sich der statt­fin­den­den Diskus­sion wohl bewusst und sie können sehr gut einord­nen, welche Diskus­sio­nen von welchen Ländern geführt werden. Allge­mein gespro­chen habe ich den Eindruck, dass die ukrai­ni­sche Bevöl­ke­rung sehr viel mehr über die Gescheh­nisse in der EU weiß, als es anders­herum ist. Der Fokus vieler EU-Länder lag die letz­ten Jahre verstärkt auf Russ­land. Zwar haben gesell­schaft­lich und poli­ti­sche Ereig­nisse, wie der Euro­maj­dan, zu mehr Aufmerk­sam­keit und neuem Inter­esse geführt. Dennoch blei­ben bis heute viele Leer­stel­len zurück. Daran müssen wir drin­gend arbeiten.


Das Inter­view mit Ira Ganz­horn vom 19. Septem­ber 2022.

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