Sie stammen aus Kharkiv und haben die Stadt nahe der Front anfangs Jahr besucht. Wie ist die Situation?
Die Straßen sind sehr leer, es ist dauerhaft dunkel aufgrund der Angriffe auf die Energieversorgung. Kharkiv ist die zweitgrößte Stadt des Landes, dennoch erscheint die Stadt oft wie ausgestorben. Im Zentrum und vielen Wohnbezirken ist die Zerstörung nach wie vor sehr offensichtlich: an den Gebäuden sind Einschusslöcher sichtbar. Dächer, Fenster und ganze Wohnblöcke fehlen, weil sie von Raketen zerstört worden sind. Der ehemals beliebte und sehr belebte Barabashovo Markt ist nun von ausgebrannten Marktreihen und Raketenkratern gezeichnet.
Häufig hören wir erst die Einschläge und wenige Sekunden später den Luftalarm.
Ira Ganzhorn, Humanitarian Aid Officer, Libereco
Die verbleibenden Kund:innen und Verkäufer:innen sagen, dass sie dort nicht weniger Angst haben als zuhause. Denn die Raketen können überall und jederzeit einschlagen. Die nahe Grenze zu Russland, dem Aggressor, macht den Luftalarm oft obsolet: die Raketen legen die kurze Entfernung von 40 bis 60 Kilometer so schnell zurück, dass ein Alarm nicht mehr rechtzeitig ausgelöst werden kann. Häufig hören wir erst die Einschläge und wenige Sekunden später den Luftalarm.
Seit einem Jahr leiden die Menschen in der Ukraine unter dem russischen Angriffskrieg. Wie können Sie als Hilfsorganisation heute am wirkungsvollsten helfen?
Am wirkungsvollsten helfen wir, in dem wir die Situation sehr genau im Blick behalten und uns täglich zu den Geschehnissen informieren. Das hilft uns sehr dabei, Risiken einschätzen zu können. Auch der enge Kontakt und Austausch über Bedarfe in den einzelnen Regionen ist von unschätzbarem Wert, denn nur so können wir verstehen, welche Hilfe wann und wo benötigt wird – und was gerade eher weniger wichtig ist. Auch der Aspekt der Kontinuität und Nachhaltigkeit ist entscheidend: Wir arbeiten bereits seit 2014 in der Ukraine und werden auch weiterhin fest an der Seite der Menschen und der Zivilgesellschaft des Landes. Selbstverständlich auch dann, wenn der internationale Fokus schon längst wieder auf der nächsten oder übernächsten Krise liegt.
Libereco engagiert sich vor allem in abgelegenen Regionen, wo keine andere Hilfe verfügbar ist. Wie ist die Situation dieser Menschen abseits des öffentlichen Interesses?
Dank unserer gemeinschaftlichen Bemühungen konnten wir diese Themen bisher sehr präsent halten. So arbeiten wir bspw. für Menschen mit Pflegebedarf eng mit der Bundeskontaktstelle, Koordinierungsstelle für Menschen mit Pflegebedarf des deutschen Bundessozial- und das Bundesgesundheitsministerium, zusammen und tauschen uns regelmäßig über die Situation vor Ort aus. Die Situation für Menschen in abgelegenen Regionen ist angespannt und unsicher. Der Zugang zu Ressourcen wie etwa Strom, medizinischer Versorgung, Lebensmittel, etc. ist extrem erschwert. Hinzu kommt der psychologische Aspekt: Besonders ältere Menschen haben Angst davor, evakuiert zu werden. Oftmals haben sie den Großteil ihres Lebens in ein und demselben Haus oder Ort verbracht. Sie wissen nicht, was sie in einer neuen Stadt erwartet. Auch möchten sie niemandem zur Last fallen.
Besonders ältere Menschen haben Angst davor, evakuiert zu werden. Oftmals haben sie den Großteil ihres Lebens in ein und demselben Haus oder Ort verbracht.
Ira Ganzhorn
Solche Gedankengänge kenne ich auch aus meiner eigenen Familie. Meine Tante und mein Onkel sind weit über 80 und leben in Kharkiv. Sie wollen sich partout nicht evakuieren lassen, auch wenn ich es ihnen schon oft angeboten habe. Lieber setzen sie sich der Lebensgefahr in ihrer Heimat aus, als eventuell an einem ihnen unbekannten Ort zu sterben. Diese Art von Gesprächen haben wir alle schon unzählige Male geführt, immer mit dem gleichen Ergebnis.
Genau deshalb tauschen wir uns regelmäßig aus und erarbeiten Programme, die genau an diesen Problemen ansetzen. Dennoch bleibt es wichtig, sich regelmäßig auszutauschen und Programme aufzusetzen, die genau an diesen Problemen ansetzen.
Die kalten Wintermonate wurden im Vorfeld als besonders herausfordernd erachtet. Haben sich die Befürchtungen bewahrheitet?
Diese Befürchtungen haben sich in der Tat bewahrheitet und sogar noch verschlimmert. Russlands gezielte Angriffe auf die ukrainische Energieversorgung seit Oktober 2022 haben die Lage drastisch verschärft. In den Monaten November und Dezember waren Millionen ukrainische Haushalte von Stromausfällen betroffen. Mit diesen Ausfällen geht einher, dass Menschen ihre Wohnung nicht heizen und nicht kochen können. Im Grunde sind alle Alltagsaufgaben nur unter sehr erschwerten Bedingungen möglich. Zusammen mit unserer Partnerorganisation Help Kharkiv haben wir beispielsweise in der Kharkivska und Donezka Oblast in Dörfern gezielt Brennholz verteilt und Öfen installiert. Insgesamt konnten wir bisher rund 450 Haushalte mit Brennholz und 100 Haushalte mit Öfen ausstatten und so eine sichere Wärmeversorgung herstellen
Wie hat sich die Hilfe von Libereco in diesem Jahr verändert?
Nach nun einem Jahr ist unsere Arbeit sehr viel strukturierter und verläuft in sehr geplanten und routinierten Bahnen. In den Monaten unmittelbar nach Beginn der Invasion waren wir sehr damit beschäftigt immer die akutesten Krisen zu lösen und konnten viel weniger in die Zukunft planen – das hat sich stark verändert. Wir agieren nun viel mehr, als immer nur auf externe Ereignisse zu reagieren. Das macht unsere Hilfe nachhaltiger und geordneter. Auch haben wir uns, so schlimm es auch klingt, an den Kriegsalltag gewöhnt. Auch das hat unsere Arbeit verändert. Zwar lassen die schrecklichen Bilder und Erzählungen uns niemals kalt, aber nun können wir sehr viel besser damit umgehen.
Sie setzen sich insbesondere für die Menschenrechte ein. Welches sind die Herausforderungen in der Ukraine?
Ein Angriffskrieg ist der fundamentalste Verstoß gegen kollektive Menschenrechte. Zudem sehen wir seit Beginn der brutalen russischen Invasion so viele Menschenrechtsverletzungen auf individueller Ebene, dass man mit dem Zählen eigentlich nicht hinterherkommt. Die Herausforderung besteht nun darin, möglichst viele dieser potentiellen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu dokumentieren – und das zugleich so genau wie es nur geht. Zahlreiche ukrainische und internationale Initiativen, sowohl staatliche als auch von Institutionen und aus der Zivilgesellschaft, sammeln seit vergangenem Februar diese Informationen, viele von ihnen auch schon seit Kriegsbeginn 2014. Ich selbst habe erst Ende November in Tschernihiw eine Menschenrechtskonferenz zu diesem Thema besucht. Hier haben sich Staatsanwaltschaft, Richter:innen und Menschenrechtsaktivist:innen vier Tage lang ausgetauscht und gemeinsam an neuen Ideen und Formen der Dokumentation gearbeitet.
Wir entwickeln gemeinsam Projektideen für die Zukunft und verlieren uns auch ab und zu in all den Ideen, die wir nach dem Krieg umsetzen werden.
Ira Ganzhorn
Bei Ihrer Ukraine-Hilfe arbeiten Sie mit Partnern. Wie hat sich die Zusammenarbeit entwickelt?
Unsere Zusammenarbeit mit den Partnerorganisationen hat sich sehr positiv entwickelt, mit sehr vielen unserer Kooperationspartner:innen verbindet mich mittlerweile eine gute Freundschaft. Das hängt natürlich damit zusammen, dass ich auch immer wieder vor Ort bin und sie besuche und aktiv mitarbeite – das stärkt das Vertrauensverhältnis beiderseits ungemein. Unser Austausch ist sehr freundschaftlich, wir entwickeln gemeinsam Projektideen für die Zukunft und verlieren uns auch ab und zu in all den Ideen, die wir nach dem Krieg umsetzen werden.
Wie nehmen die Menschen in der Ukraine die Diskussionen in den westlichen Ländern um den Krieg wahr?
Die Menschen in der Ukraine sind sich der stattfindenden Diskussion wohl bewusst und sie können sehr gut einordnen, welche Diskussionen von welchen Ländern geführt werden. Allgemein gesprochen habe ich den Eindruck, dass die ukrainische Bevölkerung sehr viel mehr über die Geschehnisse in der EU weiß, als es andersherum ist. Der Fokus vieler EU-Länder lag die letzten Jahre verstärkt auf Russland. Zwar haben gesellschaftlich und politische Ereignisse, wie der Euromajdan, zu mehr Aufmerksamkeit und neuem Interesse geführt. Dennoch bleiben bis heute viele Leerstellen zurück. Daran müssen wir dringend arbeiten.
Das Interview mit Ira Ganzhorn vom 19. September 2022.
Mehr zu Libereco.