Ira Ganzhorn, Humanitarian Aid Officer Libereco – Partnership for Human Rights

Libe­reco in der Urkaine: Die Wahr­neh­mung der Umwelt hat sich verändert

Ira Ganzhorn, Humanitarian Aid Officer bei der Hilfsorganisation Libereco – Partnership for Human Rights, ist regelmässig in der Ukraine. Sie erzählt, wie die Menschen den Alltag meistern, wie sich die Wahrnehmung der Umwelt verändert hat und welche Rolle die Fusstball-EM in Deutschland spielt.

Sie waren kürz­lich in Char­kiw. Können sie beschrei­ben, wie der Alltag der Menschen möglich ist?

Die Menschen gewöh­nen sich sehr schnell an die neuen Umstände. Diesen Mecha­nis­mus erlebe ich auch immer wieder selbst bei mir und etwa Journalist:innen oder Kolleg:innen, die mich zum ersten Man in die Ukraine beglei­ten. Es wirkt oft so, als sei die gesamte Stadt­ge­mein­schaft ein großes, einge­spiel­tes Team: Man hilft sich gegen­sei­tig, wo man nur kann, ist sehr empa­thisch und rück­sichts­voll mitein­an­der. Alle sind auf die Strom­aus­fälle einge­stellt, in Super­märk­ten und Hotels werden am Eingang Taschen­lam­pen bereit­ge­hal­ten. Auch zum Thema Sicher­heit gibt es viel Austausch zwischen den Menschen. Da geht es oft um prak­ti­sche Fragen, wie etwa, welcher Raum der sicherste in der eige­nen Wohnung ist. Zuhause sind wir auf alle Even­tua­li­tä­ten vorbe­rei­tet. Da der Beschuss oft in den späten Abend­stun­den oder nachts passiert, haben wir alle eine kleine Notfall­ta­sche, bestehend aus den wich­tigs­ten Doku­men­ten, Wech­sel­klei­dung und einem Erste Hilfe Set, Schuhe und Jacke an der Tür stehen. Das Bade­zim­mer, oftmals der sicherste Raum, weil er die meis­ten Zwischen­wände nach drau­ßen hat, funk­tio­nie­ren wir jeden Abend in eine Notun­ter­kunft um, um dort bei Beschuss Zuflucht zu finden.

Wie können Sie als Hilfs­or­ga­ni­sa­tion helfen?

An erster Stelle steht die direkte und schnelle finan­zi­elle Unter­stüt­zung. Seit Beginn der neuen russi­schen Offen­sive gegen Char­kiw haben wir unsere lang­jäh­ri­gen Part­ner vor Ort bereits mit mehre­ren 10’000 Euro unter­stützt – nicht zuletzt auch Dank gross­zü­gi­ger Zuwen­dun­gen aus der Schwei­zer Stiftungslandschaft.

Im Fokus dieser aktu­el­len Nothil­fe­pro­jekte stehen aktu­ell drei Berei­che: Medi­zi­ni­sche und psycho­lo­gi­sche Erst­ver­sor­gung nach Beschuss, Evaku­ie­run­gen aus den umlie­gen­den Sied­lun­gen und die Versor­gung der von dort vertrie­be­nen Menschen mit Hygie­ne­ar­ti­kel und ande­ren drin­gend benö­tig­ten Utensilien.

Solange es die Tele­kom­mu­ni­ka­ti­ons­ver­bin­dung zulässt, können sie uns anrufen.

Ira Ganz­horn, Huma­ni­ta­rian Aid Offi­cer 
Libe­reco – Part­ner­ship for Human Rights

Seit Anfang Mai muss­ten bereits über 10’000 Menschen ihr Zuhause aus dem Gross­raum Char­kiw verlas­sen. Sie alle sind in die Stadt evaku­iert, obwohl diese mehr­mals täglich gross­flä­chig beschos­sen worden ist.

Auch konn­ten wir unser Netz­werk in Char­kiw erwei­tern. Mit der Orga­ni­sa­tion «Dobri Vchynky Razom» versor­gen wir allein­er­zie­hende Mütter mit drin­gend benö­tig­ten Gütern für Kleinkinder.

In Deutsch­land und der Schweiz versu­chen wir nun, weiter auf die schwie­rige Lage in der zweit­größ­ten Stadt der Ukraine aufmerk­sam zu machen und werben für weitere Unter­stüt­zung. Das wird nicht leicht, schließ­lich dauert die voll­um­fäng­li­che Inva­sion Russ­lands nun schon über zwei Jahre.

Sie arbei­ten mit drei Part­ner­or­ga­ni­sa­tio­nen vor Ort zusam­men. Wie funk­tio­niert die Zusammenarbeit? 

Unsere Zusam­men­ar­beit ist mitt­ler­weile sehr vertraut und freund­schaft­lich, wir tauschen uns täglich per Messen­ger und Tele­fon mit unse­ren Kolleg:innen nicht nur in Char­kiw aus. Zudem stehen wir für sie jeder­zeit als Ansprech­per­son nach trau­ma­ti­schen Erleb­nis­sen zur Seite – solange es die Tele­kom­mu­ni­ka­ti­ons­ver­bin­dung zulässt, können sie uns anru­fen. So hat mich erst vor weni­gen Tagen ein Kollege mitten in der Nacht ange­ru­fen. Er kam als Notarzt bei einer soge­nann­ten Double-Tap-Attack unter Beschuss. Die russi­schen Trup­pen hatten erst ein mehr­stö­cki­ges Wohn­haus beschos­sen, nach dem Eintref­fen der Rettungs­kräfte atta­ckier­ten sie densel­ben Ort noch einmal, um die Helfer zu tref­fen. Eine Methode, die Russ­land seit dem Syri­en­krieg immer wieder einsetzt.

Wie erfolgt die Abstim­mung mit ande­ren Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen und den Behörden?

Die Abstim­mung wo wer wie hilft erfolgt über zentrale Koor­di­nie­rungs­zen­tren. Diese wurden zu Beginn der Inva­sion für jede ukrai­ni­sche Region einge­rich­tet und unter­lie­gen meist der Verant­wor­tung der UN. Inner­halb der jewei­li­gen UN-Clus­ter, dazu gehö­ren etwa Shel­ter, Health oder Food Secu­rity, tauschen wir uns in Unter­grup­pen über aktu­elle Entwick­lun­gen und Bedarfe aus und erfas­sen, wo wir wen mit was versorgt haben. So kann sicher­ge­stellt werden, dass alle Bedarfe erfasst werden, Engstel­len sicht­bar werden und es zu keinen Doppe­lun­gen kommt.

Der Angriffs­krieg dauert schon mehr als zwei Jahre, der Krieg im Donbas zehn Jahre. Hat sich in Ihrer Arbeit und Hilfe vor Ort eine Routine eingestellt?

Im posi­ti­ven Sinne, ja. Mitt­ler­weile hat sich trotz all der unsi­che­ren und fort­lau­fend verän­dern­der Umstände eine Art Bestän­dig­keit etabliert. Beson­ders wich­tig ist das bei plötz­lich eintre­ten­den Kata­stro­phen, wie vor einem Jahr nach der Zerstö­rung des Kachowka-Stau­dam­mes. Klare Kommu­ni­ka­ti­ons­wege und etablierte Lösun­gen helfen uns, auf solch unvor­her­ge­se­hene Ereig­nisse zu reagie­ren, um rasch passende Hilfs­mass­nah­men umzusetzen.

Diese Ereig­nisse schen­ken uns 90 Minu­ten Normalität. 

Ira Ganz­horn

Sie selbst sind immer wieder in der Ukraine. Wie gewöhnt man sich an einen Alltag in einem Land, das sich im Krieg befindet?

Die schnelle Anpas­sung an den neuen Alltag zu Beginn der Inva­sion hat mich selbst am meis­ten über­rascht. Inner­halb weni­ger Tage war der Krieg zur neuen Lebens­rea­li­tät gewor­den und neue Gewohn­hei­ten haben sich entwi­ckelt. Die Wahr­neh­mung der Umwelt ist ein gutes Beispiel hier­für. Wir sind alle sehr aufmerk­sam, was unsere Umge­bung angeht. Laute Geräu­sche oder Bewe­gun­gen am Himmel werden sofort einge­ord­net. Diese Gewohn­heit kann ich mitt­ler­weile auch daheim im siche­ren Berlin nicht mehr able­gen. Die gesamte ukrai­ni­sche Bevöl­ke­rung, inklu­sive der Kinder, haben sich – leider – bereits an diesen grau­sa­men Alltag gewöhnt.

Am 14. Juni beginnt die Fuss­ball-EM. Die Ukraine hat sich quali­fi­ziert. Ist das Turnier ein Thema?

Diese Ereig­nisse schen­ken uns 90 Minu­ten Norma­li­tät. Ein Spiel mit Freun­den anse­hen, mitfie­bern und die äusse­ren Umstände verges­sen sind eine wert­volle Ressource. Dies geschah zum Beispiel auch beim Euro­vi­sion Song Contest oder beim legen­dä­ren Boxkampf von Olek­sandr Ussyk. Und natür­lich hoffen wir darauf, dass diese Siege ein Zukunfts­aus­blick für unser Land sind.

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