Sie waren kürzlich in Charkiw. Können sie beschreiben, wie der Alltag der Menschen möglich ist?
Die Menschen gewöhnen sich sehr schnell an die neuen Umstände. Diesen Mechanismus erlebe ich auch immer wieder selbst bei mir und etwa Journalist:innen oder Kolleg:innen, die mich zum ersten Man in die Ukraine begleiten. Es wirkt oft so, als sei die gesamte Stadtgemeinschaft ein großes, eingespieltes Team: Man hilft sich gegenseitig, wo man nur kann, ist sehr empathisch und rücksichtsvoll miteinander. Alle sind auf die Stromausfälle eingestellt, in Supermärkten und Hotels werden am Eingang Taschenlampen bereitgehalten. Auch zum Thema Sicherheit gibt es viel Austausch zwischen den Menschen. Da geht es oft um praktische Fragen, wie etwa, welcher Raum der sicherste in der eigenen Wohnung ist. Zuhause sind wir auf alle Eventualitäten vorbereitet. Da der Beschuss oft in den späten Abendstunden oder nachts passiert, haben wir alle eine kleine Notfalltasche, bestehend aus den wichtigsten Dokumenten, Wechselkleidung und einem Erste Hilfe Set, Schuhe und Jacke an der Tür stehen. Das Badezimmer, oftmals der sicherste Raum, weil er die meisten Zwischenwände nach draußen hat, funktionieren wir jeden Abend in eine Notunterkunft um, um dort bei Beschuss Zuflucht zu finden.
Wie können Sie als Hilfsorganisation helfen?
An erster Stelle steht die direkte und schnelle finanzielle Unterstützung. Seit Beginn der neuen russischen Offensive gegen Charkiw haben wir unsere langjährigen Partner vor Ort bereits mit mehreren 10’000 Euro unterstützt – nicht zuletzt auch Dank grosszügiger Zuwendungen aus der Schweizer Stiftungslandschaft.
Im Fokus dieser aktuellen Nothilfeprojekte stehen aktuell drei Bereiche: Medizinische und psychologische Erstversorgung nach Beschuss, Evakuierungen aus den umliegenden Siedlungen und die Versorgung der von dort vertriebenen Menschen mit Hygieneartikel und anderen dringend benötigten Utensilien.
Solange es die Telekommunikationsverbindung zulässt, können sie uns anrufen.
Ira Ganzhorn, Humanitarian Aid Officer
Libereco – Partnership for Human Rights
Seit Anfang Mai mussten bereits über 10’000 Menschen ihr Zuhause aus dem Grossraum Charkiw verlassen. Sie alle sind in die Stadt evakuiert, obwohl diese mehrmals täglich grossflächig beschossen worden ist.
Auch konnten wir unser Netzwerk in Charkiw erweitern. Mit der Organisation «Dobri Vchynky Razom» versorgen wir alleinerziehende Mütter mit dringend benötigten Gütern für Kleinkinder.
In Deutschland und der Schweiz versuchen wir nun, weiter auf die schwierige Lage in der zweitgrößten Stadt der Ukraine aufmerksam zu machen und werben für weitere Unterstützung. Das wird nicht leicht, schließlich dauert die vollumfängliche Invasion Russlands nun schon über zwei Jahre.
Sie arbeiten mit drei Partnerorganisationen vor Ort zusammen. Wie funktioniert die Zusammenarbeit?
Unsere Zusammenarbeit ist mittlerweile sehr vertraut und freundschaftlich, wir tauschen uns täglich per Messenger und Telefon mit unseren Kolleg:innen nicht nur in Charkiw aus. Zudem stehen wir für sie jederzeit als Ansprechperson nach traumatischen Erlebnissen zur Seite – solange es die Telekommunikationsverbindung zulässt, können sie uns anrufen. So hat mich erst vor wenigen Tagen ein Kollege mitten in der Nacht angerufen. Er kam als Notarzt bei einer sogenannten Double-Tap-Attack unter Beschuss. Die russischen Truppen hatten erst ein mehrstöckiges Wohnhaus beschossen, nach dem Eintreffen der Rettungskräfte attackierten sie denselben Ort noch einmal, um die Helfer zu treffen. Eine Methode, die Russland seit dem Syrienkrieg immer wieder einsetzt.
Wie erfolgt die Abstimmung mit anderen Hilfsorganisationen und den Behörden?
Die Abstimmung wo wer wie hilft erfolgt über zentrale Koordinierungszentren. Diese wurden zu Beginn der Invasion für jede ukrainische Region eingerichtet und unterliegen meist der Verantwortung der UN. Innerhalb der jeweiligen UN-Cluster, dazu gehören etwa Shelter, Health oder Food Security, tauschen wir uns in Untergruppen über aktuelle Entwicklungen und Bedarfe aus und erfassen, wo wir wen mit was versorgt haben. So kann sichergestellt werden, dass alle Bedarfe erfasst werden, Engstellen sichtbar werden und es zu keinen Doppelungen kommt.
Der Angriffskrieg dauert schon mehr als zwei Jahre, der Krieg im Donbas zehn Jahre. Hat sich in Ihrer Arbeit und Hilfe vor Ort eine Routine eingestellt?
Im positiven Sinne, ja. Mittlerweile hat sich trotz all der unsicheren und fortlaufend verändernder Umstände eine Art Beständigkeit etabliert. Besonders wichtig ist das bei plötzlich eintretenden Katastrophen, wie vor einem Jahr nach der Zerstörung des Kachowka-Staudammes. Klare Kommunikationswege und etablierte Lösungen helfen uns, auf solch unvorhergesehene Ereignisse zu reagieren, um rasch passende Hilfsmassnahmen umzusetzen.
Diese Ereignisse schenken uns 90 Minuten Normalität.
Ira Ganzhorn
Sie selbst sind immer wieder in der Ukraine. Wie gewöhnt man sich an einen Alltag in einem Land, das sich im Krieg befindet?
Die schnelle Anpassung an den neuen Alltag zu Beginn der Invasion hat mich selbst am meisten überrascht. Innerhalb weniger Tage war der Krieg zur neuen Lebensrealität geworden und neue Gewohnheiten haben sich entwickelt. Die Wahrnehmung der Umwelt ist ein gutes Beispiel hierfür. Wir sind alle sehr aufmerksam, was unsere Umgebung angeht. Laute Geräusche oder Bewegungen am Himmel werden sofort eingeordnet. Diese Gewohnheit kann ich mittlerweile auch daheim im sicheren Berlin nicht mehr ablegen. Die gesamte ukrainische Bevölkerung, inklusive der Kinder, haben sich – leider – bereits an diesen grausamen Alltag gewöhnt.
Am 14. Juni beginnt die Fussball-EM. Die Ukraine hat sich qualifiziert. Ist das Turnier ein Thema?
Diese Ereignisse schenken uns 90 Minuten Normalität. Ein Spiel mit Freunden ansehen, mitfiebern und die äusseren Umstände vergessen sind eine wertvolle Ressource. Dies geschah zum Beispiel auch beim Eurovision Song Contest oder beim legendären Boxkampf von Oleksandr Ussyk. Und natürlich hoffen wir darauf, dass diese Siege ein Zukunftsausblick für unser Land sind.