Der Vorhang hebt sich, die Hauptdarsteller:innen stehen im Rampenlicht. Sie erhalten den Extraapplaus und die Publicity. Die Hackordnung ist klar. Exzentrische Künstler:innen sorgen für Schlagzeilen und festigen den Ruf der alles legitimierenden und verzeihenden künstlerischen Freiheit. Traditionell hierarchische Strukturen mit zuweilen seit Jahrzehnten unveränderten Abläufen lassen die Theaterwelt als starre Arbeitswelt erscheinen. Gleichzeitig sollte das kreative Schaffen ideale Grundlage sein, um neue Arbeitsmodelle zu erproben, um sich mit zeitgenössischen Entwicklungen und Werten auseinanderzusetzen. Kulturelle Institutionen sind gefordert. Inklusion, Gleichberechtigung, Nachhaltigkeit sind nicht nur Themen, die im Rampenlicht rezipiert werden. Glaubwürdigkeit verlangt sie im eigenen Selbstverständnis. Zahlreiche Kulturinstitutionen zeigen, wie es funktioniert – auch aus Tradition.
Traditionell revolutionär
Seiner beachtlichen Tradition kann sich das Theater Poche in Genf rühmen. Seit 75 Jahren funktioniert es als revolutionärer Gegenpol zu den grossen Theatern der Stadt. Bei seiner Gründung stand an seiner Spitze eine Frau. Ein Statement. Fabienne Faby war die erste Leiterin des Genfer Kleintheaters. Das «Poche» positionierte sich mit ihr eigenständig. Während die anderen Theater der Stadt die grossen Klassiker und Erfolgsstücke aus Paris zeigten, inszenierte Poche zeitgenössische Texte und setzte auf ein Ensemble, das vor Ort lebte.
Entstanden ist eine Art des Theatermachens, die sie selbst Theaterfabrik nennen. Das von der Fondation d’art dramatique de Genève betriebene Theater versteht die Fabrik heute als kollaborative Art des Kunstschaffens. Alle werden einbezogen: das Publikum, die Techniker:innen, die Administration. «Wenn die Saison startet, dann kennen alle im Haus die Stücke», sagt Mathieu Bertholet, der künstlerische Leiter des Poche.
Der Vorteil des kleinen Hauses: Die Wege sind kurz, man begegnet sich. Dennoch braucht es auch den konzeptionellen Willen, damit aus einem Nebeneinander ein Miteinander wird. Und auch wenn sie vieles in kollaborativen Prozessen erarbeiten, betont Mathieu Bertholet die Wichtigkeit, dass jede und jeder eine Rolle hat, die es zu respektieren gilt. Ein Techniker ist kein Regisseur und kaum eine Zuschauerin ist eine begnadete Schauspielerin. Das soll den Wert der Zusammenarbeit nicht schmälern. Im Gegenteil. Das Akzeptieren der Rolle jeder und jedes Einzelnen ist Ausdruck der Wertschätzung für diese. «Wir betonen damit die Herausforderung, die es ist, eine gute Schauspielerin zu sein, oder die Kompetenzen, die ein Techniker mitbringen muss», sagt er. «So zu tun, als könnten alle alles, entwertet die Fähigkeiten jeder und jedes Einzelnen.» Das System ist durchlässig, aber jede Position ist anders. Jede und jeder bringt andere Kompetenzen mit. Diese sollen genutzt werden.
Offen im Ausgang
Der Einbezug vieler Blickwinkel macht kollaborative Arbeitsweisen vielfältig und offen im Ausgang, wenn man bereit ist, das Regulativ einer strengen Hierarchie abzulegen. Nicht ein Titel oder eine Funktion ist bestimmend im Entscheidungsfindungsprozess, sondern die Qualität des Inputs.
Doch diese Arbeitsweise ist anspruchsvoll. Auch falsche Hierarchien geben Sicherheit. Deswegen braucht es Klarheit bei Prozessen, Verantwortlichkeiten und in der Kommunikation. Diese gilt es in kollaborativer Zusammenarbeit zu finden, um nicht unterwandert zu werden. «Ich glaube, diese Klarheit fehlt oft», stellt Nicolette Kretz fest. Die Gesamtleiterin des auawirleben Theaterfestival Bern fügt an: «So entstehen informelle Hierarchien, die sehr unangenehm sein können.
Es gibt für mich nichts Schlimmeres, als wenn in einem basisdemokratisch organisierten Kollektiv Einzelpersonen schleichend die Macht übernehmen.» Und weil informelle Hierarchien offiziell nicht existieren, ist es schwieriger, sich gegen sie zu wehren. Das macht den kollaborativen Ansatz anspruchsvoll. Es braucht ein Bekenntnis. Nicolette Kretz sagt: «Alle schreien immer nach neuen Strukturen in der Kultur, aber wenn Strukturen, die auf dem Papier toll klingen, von den falschen Leuten gefüllt werden, sind sie auch nicht mehr toll.» Das Theaterfestival auawirleben wurde 1982 gegründet. Seit 1998 wird es von einem gemeinnützigen Verein betrieben. 2020 hat das Team von auawirleben ein Manifest erstellt. Es definiert den Anspruch, den auawirleben in der Zusammenarbeit erfüllen will, und hält die gemeinsamen Werte wie Diversität und Inklusion fest. Gelebt hat das Team diese schon zuvor. «Vielleicht nicht ganz so konsequent», räumt Nicolette Kretz ein. Aber den Mehrwert des Manifests sieht sie vor allem in der Aussenwirkung. Wer mit dem Theaterfestival in Kontakt tritt, weiss, worauf er sich einlässt. Denn das Manifest schliesst genauso Gastkünstler:innen wie das Publikum mit ein.
Ergebnisoffen erarbeiten
Werden in einem Manifest Vorgaben für die Zusammenarbeit oder andere Leitlinien für die künstlerische Zusammenarbeit definiert, monieren Kritiker:innen gerne eine Beeinträchtigung der künstlerischen Freiheit. Doch dieser Einwand dient meist nur als Vorwand, um etwas für unmöglich zu erklären. Rahmenbedingungen gebe es überall, sagt Mathias Bremgartner von m2act. Das Spannende sei, darin die künstlerischen Freiräume zu finden und zu nutzen. m2act, das Förder- und Netzwerkprojekt der darstellenden Künste des Migros-Kulturprozent, setzt sich für einen Strukturwandel und eine faire und ökologisch nachhaltige Praxis ein. Dabei gibt es zwei wesentliche Bereiche. Wirken will m2act hinter den Kulissen.
Für die Arbeitsprozesse und die Organisation im Hintergrund werden neue Ansätze gesucht. Traditionelle Probepläne mit starren Zeitvorgaben sollen aufgebrochen werden. Wie in anderen Arbeitsfeldern werden bspw. Lösungen für die Vereinbarkeit von Kunst und Care-Arbeit gesucht. Dazu zählt auch der Einbezug der Administration. Mathias Bremgartner verweist auf den holokratischen Ansatz, den er aus der belgischen und niederländischen Theaterwelt kennt. Administration und künstlerische Seite sitzen von Anfang an zusammen am Tisch und entwickeln das Programm gemeinsam. Das verhindert, dass der Administration immer die Verhindererrolle zukommt. Stattdessen entwickeln künstlerische und administrative Kräfte zusammen, was möglich ist. Zudem soll der kreative Prozess offener gestaltet werden und auch Inputs von aussen sollen stärker einfliessen. «Im Sinne eines kreativen Prozesses lassen sich Künstler:innen durch die Expertise von anderen inspirieren, um mit neuen Formaten für die Kunst zu experimentieren», sagt Mathias Bremgartner. Wie kann ergebnisoffen ein neues Vorhaben entwickelt werden? «Wir haben gesehen, dass in der Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Bereichen sehr viel Spannendes entstehen kann», sagt er. Gemeint ist damit nicht die Expert:innensicht, die zur Erarbeitung eines Bühnenstücks beigezogen wird. Stattdessen soll die Zusammenarbeit früher beginnen. Ausgehend von einer Fragestellung beginnt die gemeinsame Arbeit. Das Ergebnis kann ein Bühnenstück, aber auch ein anderes Projekt oder Produkt sein, das dem Publikum gezeigt werden kann. Dabei, sagt Mathias Bremgartner, sei es sehr wohl denkbar, dass der Impuls nicht vom Theaterschaffenden ausgehe, sondern von der Expertin oder dem Experten.
Integrativ braucht Zeit
Gemeinsam mit dem Publikum entwickelt das Theater Poche sein Programm – gerade hat es das Programm ÉC(H)O für diesen Herbst vorgestellt. Der Prozess ist aufwändig und beginnt schon mehr als 1,5 Jahre vor dem ersten Vorhang. Ein Komitee mit Vertreter:innen des Theaters und aus dem Publikum liest die Texte. Aus rund 200 Texten wählt jedes Komiteemitglied diejenigen aus, die es interessieren. Texte, die mindestens von zwei Personen ausgewählt wurden, bleiben im Rennen. «Die Auswahl erfolgt nicht über ein Ausschlussverfahren», sagt Mathieu Bertholet. Im Gegenteil. Wem ein Text gefällt, der muss andere überzeugen, diesen auch zu lesen. Je mehr Leser:innen von einem Text überzeugt sind, desto länger bleibt dieser im Rennen. Die letzten 20 Texte lesen alle. Aus diesen wird das Programm zusammengestellt. «Seit neun Jahren setzen wir auf dieses Komitee und haben in dieser Zeit verschiedene Formen ausprobiert», sagt Mathieu Bertholet. «Diese Art der Selektion hat überzeugt, weil sie positiv ist.» Sie zeigt ebenso den Zeitaufwand, der investiert werden muss.
Risiko der Selbstausbeutung
Neue Arbeitsformen bergen eine Gefahr aufgrund der geforderten zeitlichen Belastung. Der kulturelle Bereich ist speziell anfällig. Er ist geprägt von der inneren Motivation für die Arbeit und einer grossen persönlichen Bereitschaft, sich zu investieren. Die Gefahr der Selbstausbeutung besteht latent. Deswegen hat auawirleben sein Manifest auch überarbeitet. «Wir haben – ‹das schläckt ke Geiss wäg› – mit dem Manifest mehr Arbeit», sagt Nicolette Kretz.
So hat das Team den Punkt der Selbstausbeutung integriert, weil genau dies bei der Umsetzung des Manifests drohte. Auch die neuen Arbeitsformen selbst sind aufwändig. Kollaboration braucht Zeit. Dessen war sich auch Fatiah Bürkner, die Geschäftsführerin der Max Kohler Stiftung, bewusst, als die Stiftung zusammen mit dem amerikanischen Game-Design-Studio FableVision Studios das #ProjectAmi – Art + Museums Interacting lancierte. Auch für die eigene Arbeit bedeutete die Übernahme des Projektmanagements für Fatiah Bürkner einen zusätzlichen Aufwand.
Die Projektteilnehmenden hat sie gezielt angefragt, um jene mit Lust am Experimentieren von skalierbaren Formaten zu finden. Denn die Erfahrung hat gezeigt, dass in der Kunstvermittlung vor allem Zeit knapp ist: Kaum endet eine Ausstellung, muss schon das nächste Angebot bereit sein. Die am Project-Ami teilnehmenden Museen erproben neue Game-basierte Arten der Kunstvermittlung und dabei eine andere Art des Arbeitens im Museum.
Das auawirleben Theaterfestival Bern hat die gemeinsamen Werte in einem Manifest festgehalten. Es schliesst Gastkünstler:innen wie auch das Publikum mit ein.
Zu früh perfekt
Ein Problem für die Zeitknappheit ist die früh angestrebte Perfektion. Würden in der Kunstvermittlung Projekte realisiert, würden diese mitunter nicht so viele Menschen erreichen wie erhofft, sagt Fatiah Bürkner. Ami möchte dies nun ändern. Die in der Schweiz teilnehmenden Museen Rietberg, Fondation Beyeler und Creaviva am Zentrum Paul Klee sowie das San Francisco MoMA als Gast arbeiten mit Rapid Prototyping und entwickeln Projekte in einem iterativen Prozess, der die Zielgruppe frühzeitig involviert. Im ersten Jahr des auf drei Jahre ausgelegten Projekts entwickelt jeden Monat ein Museum einen Prototypund teilt diesen mit den anderen. «Der Peer-to-Peer-Austausch ist ein zentrales Element des Projekts», sagt Fatiah Bürkner. Nach dem Motto «embolden – connect – empower» stehen das Erlernen der Methode und der Austausch im Zentrum und weniger die tatsächliche Realisierung. Und noch auf eine weitere Veränderung zielt das Projekt: die Zusammenarbeit im Haus. Die Kunstvermittlung integriert andere Bereiche im Museum wie Social-Media-Redakteur:innen oder Vertreter:innen aus der Kuration oder der Ausstellungsarchitektur. Sie entwickeln gemeinsam neue Ansätze, lassen andere Blickwinkel einfliessen und erfahren, welche Netzwerke überhaupt im Haus angezapft werden können. «Auch wenn die Methoden zum Teil schon bekannt sind, geht es vor allem auch um das Hinterfragen herkömmlicher Denkmuster unter Freunden – den amis», sagt Fatiah Bürkner.
Schritt in die Schule
Mit der Darstellungsform Tanzen will Dancing Classrooms bewegen und integrieren. Hierzu geht das Projekt in Schulklassen. Das Tanzen soll den Unterricht inspirieren und die Zusammenarbeit im Klassenzimmer bereichern: Bestehende Unterrichtsmethoden werden mit Tanzen erweitert. 2010 hat die Geschäftsführerin Susanne Schnorf die Idee aus den USA in die Deutschschweiz gebracht und im darauf folgenden Jahr den gemeinnützigen Verein Dancing Classrooms Schweiz gegründet. «Gerade in Schulen mit hohem Anteil an fremdsprachigen Kindern ist es wichtig, dass das Tanzen eine eigene Sprache ist und somit sprachliche Schwierigkeiten kein Hindernis darstellen», sagt Susanne Schnorf.
Inspiration im Unterricht: Mit Tanzen will Dancing Classrooms in Schulen bewegen und integrieren.
«Häufig zeigt sich, dass gerade schulisch eher schwächere Kinder beim Tanzen brillieren und dadurch ihr Selbstbewusstsein stärken können. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass jedes Kind tanzen kann.» So bildet das Tanzen eine Basis für eine andere Form des zusammen Gestaltens. Das Programm ist in den normalen Schulunterricht integriert. Auch die Klassenlehrer:innen nehmen daran teil. Das fördert den Gemeinschaftssinn und das Sozialverhalten. Alle Schüler:innen nehmen miteinander am gleichen Programm teil und arbeiten auf ein gemeinsames Ziel, das Abschlussfest, hin. Das Verhalten von jedem Einzelnen hat dabei einen grossen Einfluss auf das Gemeinschaftsgefühl. «Es geht bei unserem Tanzprogramm nicht darum zu führen und geführt zu werden, sondern darum, dass man zu zweit und auch als ganze Gruppe harmoniert», sagt Susanne Schnorf. «Wir legen grossen Wert auf einen respektvollen und unterstützenden Umgang untereinander.»