Die Kinderombudsstelle hilft Kindern, wenn ihre Rechte verletzt wurden. Wer meldet sich bei Ihnen?
In rund 30 Prozent der Beratungen sind es die Kinder selbst, die den Erstanruf tätigen. In 46 Prozent ist es ein Elternteil. Die restlichen Anrufe kommen von Fachpersonen, Pflegeeltern oder anderen nahestehenden Personen. Unser Ziel ist es immer, mit den Kindern zu sprechen. Für Eltern gibt es genügend Anlaufstellen. Kinder können ihre Situation sehr gut beschreiben, auch wenn es natürlich Ausnahmen gibt wie Kleinkinder.
Ab welchem Alter melden sich Kinder bei Ihnen?
Das jüngste Kind, das uns angerufen hat, war sechs Jahre alt. Ab diesem Alter wollen wir die Kinder auch ansprechen. In diesem Alter können sie schon sehr gut ausdrücken, wo das Problem liegt.
Wie finden die Kinder den Kontakt der Ombudsstelle?
Teils machen Fachpersonen die Kinder und Jugendlichen auf unser Angebot aufmerksam. Andere finden uns im Internet und rund 20 Prozent werden über die Beratung des 147 an uns verwiesen.
Wir erfüllen keine Wünsche, sondern setzen das Recht der Kinder um.
Irène Inderbitzin, Geschäftsführerin Ombudsstelle Kinderrechte Schweiz
Melden sich bei Ihnen Kinder in einer akuten Krise oder eher solche, die sich in einer nachhaltig belastenden Situation befinden?
Die Kinder, die sich bei uns melden, leben in Situationen mit einer längeren Vorgeschichte. In diesen Fällen ist schon viel passiert. Die Situation ist soweit eskaliert, dass sich die Kinder oder eine andere Person aus dem Umfeld bei uns meldet. Wir möchten eigentlich erreichen, dass die Kinder früher zu uns gelangen. Unser Ziel ist primär die Prävention. Wenn jemand realisiert, dass das Kindswohl gefährdet ist und Rechte verletzt werden, soll sie uns kontaktieren. Wir vermitteln dann zwischen dem Kind und Fachpersonen, damit die Rechte sichergestellt werden und das Kind rasch geschützt wird.
Was wollen die Kinder, wenn sie sich melden?
Sie wollen das Recht, gehört zu werden. Die Kinder wenden sich mit wirklich ernsthaften Fragestellungen an uns. Oft geht es um ganz schwere Kampfscheidungen oder Fremdplatzierungen im Kindesschutz. Aber wir behandeln alle Themen und decken alle Rechtsgebiete ab, vom Jugendstrafrecht, über Asyl- und Ausländerrecht oder auch Schulrecht.
Aber können Sie die Wünsche des Kindes erfüllen?
Die Interessen des Kindes stehen im Zentrum. Wir hatten ein Kind, das gemobbt wurde und nicht mehr in die Schule wollte. Aber ein Kind hat ein Recht auf Bildung. Dies gilt es im Interesse des Kindes zu schützen. Wenn man dem Willen des Kindes nicht entsprechen kann, ist es wichtig, dass das Kind gehört wird, wenn die nächsten Schritte eingeleitet werden. Es muss sich einbringen können, damit eine gute Lösung gefunden werden kann. Wir wollen die Resilienz der Kinder erhöhen.
Welche Erwartungen haben die Kinder?
Wir erfüllen keine Wünsche, sondern setzen das Recht der Kinder um. Als Ombudsstelle vermitteln wir. So sind wir immer wirkungsvoll. Natürlich haben die Kinder Wünsche und Erwartungen. In jeder Beratung steht aber immer zuerst das Recht auf Information. Meist ist dieses Recht verletzt worden. Es fehlt dem Kind an Informationen. Wir hatten eine suizidgefährdete Jugendliche. Nach sechs Wochen in einer psychiatrischen Institution hat sie uns angerufen, weil sie nicht verstanden hat, weshalb sie in einer geschlossenen Abteilung war. Wir konnten die Situation einordnen – die Einweisung an sich war nicht in Frage gestellt. Nach vier Wochen waren aber noch nicht alle Abklärungen abgeschlossen, weswegen es eine Verlängerung brauchte. Wir konnten erreichen, dass eine Beiständin eingesetzt wurde, welche abklärte, wie die zukünftige Wohnsituation aussehen soll und wo die Jugendliche ihre Ausbildung absolvieren kann.
Es geht um eine rasche Lösungsfindung für das Kind.
Irène Inderbitzin, Geschäftsführerin Ombudsstelle Kinderrechte Schweiz
Wie ist die Resonanz der involvierten Parteien? Akzeptieren sie die Kinderombudsstelle als hilfreiche Vermittlerin?
In der Zwischenzeit haben wir eine breite Akzeptanz. Es geht um eine rasche Lösungsfindung für das Kind. Wir vermitteln zwischen den Fachpersonen und den Kindern und stellen Recht her.
Die Kinderombudsstelle hat vor zwei Jahren die Arbeit aufgenommen. Was war der Auslöser?
Das waren die Kinder selbst. Allerdings liegt der Ursprung für das Konzept der Kinderombudsstelle eigentlich bereits 16 Jahre zurück. Die Situation von Heim- und Pflegekindern stand am Anfang. Sie haben keine Eltern, die sich für sie wirksam einsetzen können. Der Staat macht vieles für sie, und vieles hat er sehr gut gemacht. Aber wenn nicht, konnten die Kinder sich nicht selbst verteidigen.
Was waren dies für Situationen?
Bspw. wenn Verfahrensrechte wie das Recht auf Gehör nicht eingehalten wurden, konnten die Kinder nicht selbst für sich einstehen und dieses Recht einfordern. Gerade auch bei Fremdplatzierung benötigt es zwingend Rechtsvertreter:innen, die für das Thema qualifiziert sind.
Welche Qualifikation ist gefragt?
Sie müssen in der Gesprächsführung mit Kindern ausgebildet sein. Sie brauchen die Qualifikation in der Entwicklungspsychologie von Kindern. So ist Kinderanwaltschaft Schweiz als Vorgängerorganisation entstanden. Um zu erläutern, mit welchen Fragestellungen sie sich befasst, lassen sie mich die Situation von zwei Halbgeschwistern erzählen. Weil sie die Mutter gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben hat, wurden beide fremdplatziert, aber in verschiedenen Pflegefamilien. So waren sie einfacher für die Adoption zu vermitteln. Für den Staat war dies interessanter, weil er weniger lange zahlen musste. Aber dieses Vorgehen war einfach nicht rechtskonform. Geschwister haben das Recht gemeinsam aufzuwachsen. Jemand musste sich für die Rechte der Kleinkinder einsetzen. In einer anderen Situation hat eine Heimleiterin eine Jugendliche auf uns aufmerksam gemacht. Sie war aus nachvollziehbaren Gründen fremdplatziert. Aber sie wurde nicht angehört. Man hatte nicht mit ihr nach einer Lösung gesucht. Das führte zu einer Eskalation bis zur Suizidgefährdung. Wir haben das Geschehene neu aufgerollt. Die Jugendliche erhielt eine Rechtsvertretung und wurde angehört. Schliesslich konnte eine Pflegefamilie in der Nähe der Mutter gefunden werden. Es sind schwere Entscheide, die das Leben eines Kindes massgeblich beeinflussen, wobei den Kindern die Mittel fehlen, ihr Recht einzufordern. Aufgrund solcher Situationen wurde Kinderanwaltschaft Schweiz gegründet. 2008 war sie operativ und schon bald haben die Kinder selbst angerufen.
Die Kinder haben sich selbst gemeldet?
Genau. Deswegen sage ich, dass es die Kinder selbst waren. Das hat uns auf die Lücke im System hingewiesen. Bei Kinderanwaltschaft Schweiz stand die Qualifikation der Rechtsvertretung im Fokus. Aber wenn ein Kind anruft, können sie nicht einfach aufhängen. So haben wir sie beraten. Und wir haben eine Strategie erarbeitet für eine Kinderombudsstelle. Zu dieser Strategie gehört auch das politische Engagement. Wir waren der Ansicht, es braucht eine öffentlich-rechtliche Lösung.
Und wo stehen wir?
Das Ziel war, bis 2020 diese Lösung gefunden zu haben. Zwar ist dank unserem Engagement die Motion von Ruedi Noser 2019 zustande gekommen. Aber es hat sich gezeigt, dass mit dem Gesetzgebungsprozess erst ab 2026 mit einer Lösung zu rechnen ist. Deswegen haben wir die Ombudsstellen-Aufgaben ganz aus Kinderanwaltschaft Schweiz herausgelöst. Schliesslich sollte ein Kind sich auch an uns wenden können, wenn es sich von der Rechtsvertretung nicht korrekt vertreten fühlt.
Wir wollten bewusst ganz unabhängig sein.
Irène Inderbitzin, Geschäftsführerin Ombudsstelle Kinderrechte Schweiz
Weshalb haben sie für diese neue Organisation die Form einer Stiftung gewählt?
Kinderanwaltschaft Schweiz war die Gründerin. Aber wir wollten bewusst ganz unabhängig sein. Der Vorstand und das ganze Team sind in die Kinderombudsstelle gewechselt, während die Positionen bei Kinderanwaltschaft Schweiz neu besetzt wurden. So können wir auch nachweisen, dass es dieses Angebot braucht.
Die heutige Stiftung ist somit eine Zwischenlösung. Wie wird die öffentlich-rechtliche Lösung ihre Arbeit weiterführen?
Unseren Finanzgeber:innen ist es sehr wichtig, dass die Finanzierung nachhaltig ist. Das heisst, alles Wissen, der ganze Aufbau unseres Angebots soll erhalten bleiben. Wenn es eine Verwaltungslösung gibt, soll dies in die neue Organisation überführt werden. Wenn es eine Mandatslösung gibt, muss dieses ausgeschrieben werden. Dann kann es sein, dass wir uns bewerben. In jedem Fall wird das Wissen an den neuen Anbieter transferiert werden.