Alessandra Weber-Zimmerli, Geschäftsleiterin Stiftung Institut Kinderseele Schweiz

«Kinder sind sehr loyal gegen­über ihren Eltern»

Sind die Eltern psychisch erkrankt, leiden die Kinder. Die Stiftung Institut Kinderseele Schweiz setzt sich für die Gesundheit dieser Kinder ein. Geschäftsleiterin Alessandra Weber-Zimmerli spricht über die Wirkung frühzeitiger Massnahmen zum Kinderschutz und weshalb die Zusammenarbeit mit anderen gemeinnützigen Organisationen ein «Muss» ist.

The Philanthropist: Die Stif­tung Insti­tut Kinder­seele Schweiz hilft Kindern von Eltern mit einer psychi­scher Erkran­kung oder einem Sucht­pro­blem. Wie wirkt sich die Pande­mie auf diese Fami­lien aus? 
Ales­san­dra Weber-Zimmerli: Die betrof­fe­nen Fami­lien sind in grös­se­rer Not als vor der Pande­mie. In unse­ren Bera­tun­gen erlan­gen wir den Eindruck, dass insbe­son­dere Fami­lien, die vor der Pande­mie bereits am kämp­fen waren, durch die Pande­mie ganz aus der Balance gerieten.

Bean­spru­chen diese Fami­lien neu Hilfe oder waren sie schon zuvor in Bera­tung?
Wir beglei­ten Fami­lien nur kurz bis mittel­fris­tig. Unser Fokus liegt auf Fami­lien, die es gerade beson­ders schwie­rig haben. Mit ihnen orga­ni­sie­ren wir Unter­stüt­zung im priva­ten Umfeld oder suchen profes­sio­nelle Hilfe. Sobald dies orga­ni­siert ist, ziehen wir uns zurück.

Hat sich ihre Beglei­tung in der Pande­mie verän­dert?
Vor der Pande­mie hatte eine Fami­lie höchs­tens zwei bis drei Bera­tungs­ge­sprä­che. Seit­her brau­chen sie meis­tens mehr.

Viele betrof­fene Eltern meinen, sie würden ihre Kinder schüt­zen, wenn sie nichts sagen. Doch genau das Gegen­teil ist der Fall.

Ales­san­dra Weber-Zimmerli, Insti­tut Kinder­seele Schweiz

Wie gelan­gen diese Fami­lien zu Ihnen?
50 Prozent kommen von sich aus. Sie finden uns im Inter­net oder werden auf uns aufmerk­sam gemacht. 50 Prozent werden von Fach­per­so­nen an uns verwie­sen. In einem ersten Schritt bera­ten wir meist die Eltern.

Melden sich auch Kinder?
Kinder melden sich sehr selten. Sie sind sehr loyal ihren Eltern gegen­über, selbst wenn sie genü­gend selbst­stän­dig sind. Sie empfin­den es als Verrat an den Eltern, wenn sie Hilfe suchen würden. Eher melden sich Tanten oder Götti.

Insge­samt spre­chen Sie von 300’000 Kinder, die betrof­fen sind.
Da die Daten nicht erho­ben werden handelt es sich um eine Schät­zung, die auf Studien aus dem Ausland beru­hen. Wahr­schein­lich liegt die Zahl in der Schweiz mitt­ler­weile eher bei 400 bis 450’000 betrof­fe­nen Kindern. Jedes vierte Kind ist betroffen.

Wo sollte die Forschung hier noch vertieft anset­zen?
Die Erhe­bung der Anzahl ist schwie­rig. Viele Eltern sind nicht in Behand­lung. Ausser­dem gibt es Erkran­kun­gen, bei denen das Fehlen der eige­nen Krank­heits­ein­sicht zum Krank­heits­bild gehört. Konkrete Zahlen zu haben, würde dem Thema poli­tisch mehr Gewicht verlei­hen. Mehr Forschung wäre auch bei den Hilfs­an­ge­bo­ten nütz­lich um mehr zu erfah­ren, welche Ange­bote die Kinder beim Gesund­blei­ben effek­tiv unter­stüt­zen. Hier sehe ich Potenzial.

Haben Sie konkrete Ansatz­punkte?
Viele betrof­fene Eltern meinen, sie würden ihre Kinder schüt­zen, wenn sie nichts sagen. Doch genau das Gegen­teil ist der Fall. Um gesund zu blei­ben brau­chen die Kinder Erklä­run­gen und eine verläss­li­che Bezugs­per­son. Weitere Erkennt­nisse gibt es aus Program­men in Deutsch­land, Norwe­gen und Holland. Aber es braucht noch viel Forschung um zu wissen, wie diese Programme den besten Nutzen erzielen.

Ihre Stif­tung wurde 2014 gegrün­det. Wie hat sich die Aufgabe ihrer Stif­tung seit­her verän­dert?
Die Vision ist dieselbe geblie­ben: Die Kinder von Eltern mit psychi­scher Erkran­kung oder Sucht­pro­ble­men soll­ten nicht verges­sen gehen. Sie sollen möglichst früh unter­stützt werden, damit sie gesund blei­ben. Ihr Risiko, selbst zu erkran­ken, ist zwar erhöht, aber wir wissen, dass sie es gut über­ste­hen können, wenn sie früh Unter­stüt­zung erhalten.

Und was hat sich verän­dert?
Der stra­te­gi­sche Fokus. Zu Beginn konzen­trier­ten wir uns auf die Entstig­ma­ti­sie­rung der psychi­schen Krank­heit und auf die Sensi­bi­li­sie­rung für das Thema. Unter­des­sen hat sich ein zwei­ter Schwer­punkt entwi­ckelt: die Bera­tung. Wir haben seit einem Jahr eine physi­sche Bera­tungs­stelle nach­dem wir zuvor nur über Tele­fon und online tätig waren. Für die Zukunft wollen wir noch verstärkt auf die Psych­ia­trie einwir­ken. Bei der Behand­lung von Pati­en­ten und Pati­en­tin­nen mit minder­jäh­rige Kindern soll schon früh an diese gedacht werden. Hier können wir viel erreichen.

Verän­dert hat sich auch, dass die Welt zuneh­mend digi­ta­ler wird. Ist das für Sie mehr Chance oder Heraus­for­de­rung?
Für uns ist es klar ein Vorteil. Es verein­facht die anonyme Kontakt­auf­nahme – es bleibt ein scham­be­haf­te­tes Thema. Ausser­dem können wir so in der gesam­ten Deutsch­schweiz Hilfe anbie­ten. Für die Gesund­heit der Menschen insbe­son­dere jene der Kinder ist die Digi­ta­li­sie­rung aber auch eine Herausforderung.

Wenn man dem Stif­tungs­zweck gerecht werden will, dann muss man zusammenarbeiten.

Ales­san­dra Weber-Zimmerli, Insti­tut Kinders­sele Schweiz

Arbei­ten Sie mit Part­nern?
Wir arbei­ten mit verschie­de­nen Part­ner­or­ga­ni­sa­tio­nen zusam­men wie Pro Juven­tute oder Pro Mente Sana. Da wir rela­tiv klein sind, versu­chen wir, fest mit Part­nern zusam­men­zu­ar­bei­ten und uns so zu ergänzen.

Obschon Sie bei der Mittel­be­schaf­fung Konkur­ren­ten sind?
Natür­lich konkur­rie­ren wir. Aber wir machen gute Erfah­run­gen mit Part­ner­schaf­ten. Und wenn man dem Stif­tungs­zweck gerecht werden will, dann muss man zusam­men­ar­bei­ten. Nur so kann man am meis­ten erreichen.

Arbei­ten Sie auch mit Behör­den oder Versi­che­rern?
Behör­den, Bund oder Kantone, sind als Finan­zie­rungs­part­ner wich­tig. Mit Versi­che­run­gen haben wir kaum zu tun, auch weil unsere Ange­bote nicht verre­chen­bar sind. Das wäre natür­li­che eine Wunsch­vor­stel­lung … Zum Teil erhal­ten wir einen finan­zi­el­len Zustupf von ihnen.

Mit ihrer Arbeit verhin­dert die Stif­tung zukünf­tige Kosten?
Kran­ken­ver­si­che­rer müss­ten eigent­lich ein Inter­esse haben, weil man weiss, dass die betrof­fe­nen Kinder ein erhöh­tes Risiko haben, später selbst zu erkran­ken. Dem wirken wir mit unse­rer Arbeit entge­gen. Aber dazu braucht es eine lang­fris­tige Denke, einen Zeit­ho­ri­zont von 20 bis 30 Jahren.

Die Weih­nachts­tage können für Fami­lien heraus­for­dernd werden. Spüren Sie dies?
Wir spüren es verzö­gert. Wir leis­ten keine Notfall­hilfe. Deswe­gen spüren wir es im Januar, wenn die Betrof­fe­nen die Feier­tage mit Mühe über­stan­den haben und sie aufar­bei­ten wollen.

Mehr zur Stif­tung Insti­tut Kinder­seele Schweiz lesen Sie ab dem 26. Novem­ber 2021 in der nächs­ten Ausgabe von The Philanthropist zu «Sozia­les, Kinder und Kultur».

StiftungSchweiz engagiert sich für eine Philanthropie, die mit möglichst wenig Aufwand viel bewirkt, für alle sichtbar und erlebbar ist und Freude bereitet.

Folgen Sie StiftungSchweiz auf

-
-