Sie verfügen über langjährige Erfahrung in der internationalen Entwicklungsarbeit. Hat sich die Zusammenarbeit der verschiedenen Akteure entwickelt und funktioniert sie heute besser als noch vor Jahren?
Es gibt vielversprechende Ansätze. Dass wir aber eine Formel gefunden hätten, wie die Zusammenarbeit idealerweise funktionieren sollte, sehe ich nicht.
Wo erkennen Sie Ansätze mit Potenzial?
Überall dort, wo es gelingt, unterschiedliche Mandate (humanitäre, entwicklungs‑, umwelt‑, wirtschafts- und finanzpolitische), verschiedene Ebenen (lokale, regionale und globale Akteure) und geografische Kontexte zusammenzubringen. Ein Beispiel der vergangenen Jahre ist die «Humanitarian Investing Initiative» im Kontext des World Economic Forum, in der ich mich als Co-Vorsitzender engagiere. Die Stiftung elea vertritt einen zukunftsweisenden Ansatz mit unternehmerischem Fokus.
Aber das sind Einzelfälle?
Wir sind sicher nicht dort, wo wir sein sollten, um grössere Wirkung zu erzielen. Staatliche Entwicklungshilfe und humanitäre Organisationen, multilaterale Finanzinstitutionen und die Philanthropie müssen ihre Rollen und ihre Zusammenarbeitsmodalitäten, insbesondere in fragilen Kontexten und Krisensituationen, immer wieder neu finden.
Wo liegt die Schwierigkeit?
Bei den grossen Herausforderungen unserer Zeit, bei der Wasser‑, Energie- oder der Gesundheitsversorgung, den Bildungsfragen oder der Bereitstellung von Wohnraum für immer mehr Menschen. Probleme gibt es aber auch wegen realitätsfremder Mandate und Politiken. Es gibt heute keinen Konsens, wer welche Rolle spielt und wie wir die Organisationen mit ihren unterschiedlichen Mandaten und Ansätzen besser verknüpfen. Zwar gibt es gute Ansätze und immer wieder erfolgreiche Kooperationen. Aber der schwache Konsens darüber, welche Wirkung wir messen, widerspiegelt die hohen Hürden. Es fehlt auch ein klares Verständnis, wie wir verschiedene Finanzierungsinstrumente in Wertschöpfungsketten verbinden.
Wie kann eine solche aussehen?
Beim IKRK haben wir versucht, im Bereich Wasserversorgung über die rein humanitäre Notlage hinauszugehen. Philanthropisches Kapital hat uns beispielsweise erlaubt, Planungsarbeiten für Wassersanierungsprojekte zu realisieren. Auf der Basis dieser Arbeiten waren Staaten bereit, nicht nur kurzfristige Nothilfe, sondern auch Entwicklungsgelder zu sprechen. Mit der Unterstützung einzelner Staaten konnten wir den Ansatz weiterentwickeln. Aufgrund positiver Ergebnisse war die Weltbank bereit, einen grösseren Kredit zu sprechen. Mit dem Engagement der Weltbank folgten private Investoren.
Wo fehlt das gemeinsame Verständnis?
Die grosse Frage, die auch heute die Diskussion bestimmt, lautet: Welche Wirkung wollen wir erzielen und was sind Kriterien und Standards, diese zu messen? Wir haben in Krisensituationen relativ viele neue Finanzierungsinstrumente und Zusammenarbeitsformen mit philanthropischen Akteuren entstehen sehen. Beim Umweltschutz und in der Bekämpfung des Klimawandels haben wir mit dem CO2-Ausstoss und den Netto-Null-Zielen relativ breit abgestützte und messbare Grössen. Im Gegensatz dazu fehlen solche Ziele in Themenbereichen wie Erziehung, Gesundheit oder «Good Governance».
«Wo mit welchen Mitteln welche Wirkung erzielt werden soll, muss zum dominierenden Leitgedanken werden.»
Peter Maurer
Helfen Ansätze wie Impact Investing, weil sie Gedankengut aus dem Unternehmertum in die Philanthropie einbringen?
Zunächst scheint mir wichtig: Wir sollten weder im öffentlichen noch im privaten und philanthropischen Raum Geld ausgeben, ohne dessen Wirkung zu definieren und zu überprüfen. Es braucht Indikatoren, um zu messen, wann Ziele erreicht sind. Das hat zunächst nichts mit Marktwirtschaft zu tun, sondern mit vernünftigem Finanzgebaren. Es reicht heute nicht mehr, mit politischen und moralischen Argumenten Geld auszugeben, um ein Problem zu lösen, ohne zu wissen, welche Wirkung wir haben wollen und welche wir tatsächlich haben. Die Zeiten, in denen Philanthropie billiges oder gar Gratis-Geld war, sind vorbei.
Es braucht mehr Wirkungsorientierung?
Ich bin entschieden für wirkungsorientierte Investitionen. Das Unternehmertum ist eines der nachhaltigsten Systeme, Geld wirkungsvoll auszugeben. Wo mit welchen Mitteln welche Wirkung erzielt werden soll, muss zum dominierenden Leitgedanken werden.
Dazu braucht es Unternehmertum?
Unternehmer:innen überlegen sich, wie und wo sie investieren und
mit welcher Wirkung. Ich habe mich immer dagegen gewehrt, Unternehmertum und Philanthropie oder humanitäre Arbeit als Gegensätze zu verstehen. Unternehmertum ist die wohl beste Garantie für Wirkungsorientierung, nicht nur finanziell, sondern in einer viel umfassenderen Konzeption der nachhaltigen Betriebsführung.
Was bedeutet denn Unternehmertum?
Wenn wir über Philanthropie und Unternehmertum sprechen, dann geht es um die Frage, wie wir mit Ressourcen Wirkung erzielen können. Unternehmer befassen sich naturgemäss mit allen Aspekten der Betriebsführung von Investitionen, zur effizienten Organisation, zur Kompetenz der Mitarbeiter:innen und zur Wirkung auf das Umfeld. Dies korreliert mit «Impact Investing» im besten Sinn. Kapital kann verschieden strukturiert werden und verschiedene Formen annehmen. Mit Blick auf die globalen Herausforderungen und die wichtigen Themen unserer Gesellschaft ist es wichtig, zu überlegen, wie wir finanzielle Rentabilität und soziale Wirkung am besten kombinieren können.
Gibt es in internationalen Organisationen einen Konsens, was als Wirkung verstanden wird?
Es gibt Ansätze und immer wieder die Gefahr zur Dogmatisierung des einen oder anderen Aspektes als Allerwelts-Heilmittel.
Wie lässt er sich definieren?
Wer Hilfe leistet, muss die Wirkung immer in Zusammenarbeit mit jenen bestimmen, die Unterstützung brauchen. Dieser Gedanke bestimmt auch die Rotkreuz-Bewegung und stammt aus der schweizerischen «Bottom-up»-Kultur. Die Betroffenen müssen ihre Bedürfnisse artikulieren. Umgekehrt fliesst Geld nur unter gewissen Bedingungen. Es braucht den Dialog zwischen Kapitalgebern und Betroffenen. Ohne diesen besteht die Gefahr, lokale und finanzielle Realitäten zu missachten. Ohne lokale Verwurzelung kann Kapital kaum Wirkung erzielen und ohne finanziellen Realismus bleibt Kapital weit weg von den Problemen. Wir brauchen ein Verständnis für die jeweiligen Rollen in der Gesellschaft und wir müssen erkennen, wo Unterstützungsmassnahmen politische Sensibilitäten kreieren und allenfalls gesellschaftliche Konflikte fördern.
Der Schweizer Diplomat und ehemalige Präsident des IKRK, Peter Maurer, ist heute u. a. Verwaltungsrat der Zurich Versicherung und der Vontobel-Stiftung sowie Mitglied des Comité de Patronage der elea Foundation for Ethics in Globalization.
Welche Rolle kann Philanthropie in unserer Gesellschaft übernehmen?
Philanthropie hat viele Gesichter. Sie wird von Individuen und Institutionen geprägt. Sie kann mit unterschiedlichen Ansätzen kombiniert werden. Es gibt nicht ein eindeutig definiertes Wesen der Philanthropie. Vielmehr gibt es eine Reihe von Fragen, die sich philanthropische Akteure heute stellen müssen.
Welche Fragen?
Welchen Beitrag wollen sie gegenüber der eigenen Gesellschaft und gegenüber den internationalen Herausforderungen leisten? Versteht sich Philanthropie als autonome Akteurin oder als Teil eines Hilfesystems?
Was würde das bedeuten?
Wenn sich Philanthropie als Teil eines Systems versteht, steht sie in Konkurrenz, in Komplementarität oder Subsidiarität zu anderen Hilfsdienstleistungen, die mit anderen Instrumenten tätig sind, und es wird nach neuen Kooperationen Ausschau gehalten; systemische Ansätze zwingen zur Zusammenarbeit. Sieht man sich als Transformationskraft oder als humanitär stabilisierende Kraft? Auch hier gibt es nicht ein einziges Wesen der Philanthropie. Die verschiedenen Akteure müssen diese Fragen jeweils für sich beantworten.
Gibt es auch eine politische Rolle?
Es gibt nichts, was in diesem Bereich völlig unpolitisch ist. Wer jemandem Geld für Projekte, Programme und Aktivitäten zur Verfügung stellt, greift immer in einen Bereich ein, der auch politisch definiert ist. Dabei kann er sich stärker oder weniger stark an der politischen Aktualitätsagenda orientieren. Aber es geht nicht nur um die Position zur Politik.
Was zählt noch?
Ebenso wichtig ist die Frage, wie sich die Philanthropie zum Markt und zum Marktversagen stellt. Wie stellt sie sich zum Staat und seinen Unzulänglichkeiten? Wie stellt sie sich zu den gesellschaftlichen Gerechtigkeitsforderungen?
Das heisst?
In der Gesellschaft ist Kapital in der Regel nicht gerecht verteilt. Die heutige Diskussion über Erbschaftssteuern und über Reichtum betrifft die Philanthropie ganz entscheidend. Philanthropen haben Kapital zur Verfügung und sind daher gezwungen, sich zu überlegen, wie dieses eingesetzt wird. Letztlich geht es um das Verhältnis von Individuum, Gesellschaft und Staat. Wo liegen Verantwortung und Handlungsmöglichkeiten von Individuen? Es gibt heute in unserer Gesellschaft keinen Punkt, der unbestritten ist.
Was folgt daraus?
Es ist heute schwierig, einfach «Gutes zu tun». Jede Institution muss sich umfassendere politische und gesellschaftliche Fragen stellen. Die Philanthropie braucht glaubwürdige und konsistente Antworten. Das ist herausfordernd, denn traditionelle Philanthrop:innen und Vertreter:innen der Generation Z beispielsweise haben andere Vorstellungen. Wir brauchen ein offenes Verständnis von Philanthropie statt eine reduktionistische Definition.
Bieten sich der Philanthropie dank des Kapitals vor allem Möglichkeiten oder bedeutet es mehr Verpflichtung und Verantwortung, eine Vorreiterrolle bei der Lösung globaler Herausforderungen wie des Klimawandels oder des Hungers zu übernehmen?
Die Erwartungen an ein gesellschaftlich verantwortungsvolles Handeln sind sicher gestiegen. Philanthropie wird daher stärker gesellschaftlich und politisch definiert und eingefordert. In der Schweiz gibt es viele Menschen, die ihre Verantwortlichkeit als Kapitalbesitzer:in leben. Sie kreieren Stiftungen und individuelle Aktivitäten. Welchen Raum sie erhalten und wie solche Aktivitäten von der Gesellschaft und der Politik beurteilt werden, sind Fragen, deren Regelung im Fluss ist. Es geht um die beste Mischung von öffentlich und demokratisch legitimierten Institutionen und privatem gesellschaftlichem Engagement. Die Philanthropie ist ein Teil der Anstrengungen, die wir heute gemeinsam leisten müssen, um die grossen Probleme zu lösen. Wenn ich gemeinsam sage, meine ich nicht, dass alle das Gleiche tun oder einander dreinreden sollen. Gemeinsam heisst erkennen, dass wir heutzutage mit Dimensionen von Problemen zu tun haben, bei denen alle einen Beitrag leisten müssen, wo sie können.
Wie kann sich die Philanthropie selbst für diese Rolle einsetzen? Können gerade grosse Stiftungen mit dem Einsatz ihrer Mittel die Richtung von Lösungsansätzen beeinflussen oder bestimmen?
Das ist ein Dilemma. Sie können die Rechtslandschaft so organisieren, dass private Geldgeber:innen relativ viel Kapital zur Verfügung haben. Demokratiepolitisch ist das problematisch, weil Einzelne einen überproportionalen Einfluss auf die Gestaltung von Aktionen und Politiken haben. Auf der anderen Seite sehen wir heute auch, wo die Probleme grosser öffentlicher Institutionen sind. Oft wurden sie Teil der politischen Auseinandersetzung oder verstrickten sich in bürokratische Praktiken, ohne dass sie entsprechend ihrem Gewicht Wirkung erzielten.
Sehen Sie einen Lösungsansatz?
Wir haben immer noch eine fast ideologische Kontroverse darüber, ob staatliche, kollektive oder individuelle Ansätze besser sind. Ich plädiere zugunsten von «Checks and Balances», von Komplementarität und Rollenklärung. Die gesellschaftlich philanthropische Schiene hat Vor- und Nachteile, genauso wie rein staatliche Ansätze. Heute ist es wichtig, dass wir die positiven Wirkungen erzielen und nachweisen können, dass wir eine wichtige Rolle im Gesamtsystem glaubwürdig abdecken und nicht einfach unkoordiniert Präferenzen eines Individuums oder einer politischen Strömung repräsentieren. Wenn die Akteure hüben und drüben dies glaubwürdig nachweisen können, werden sie auch weniger politisch hinterfragt.
Was brauchen die internationalen Organisationen, um noch wirkungsvoll arbeiten zu können?
Die politische Konsensbildung ist für Hilfsleistungen enorm wichtig. Weltweit sehen wir, dass sich diese Aktivitäten meistens in gespaltenen Gesellschaften mit vielen Spannungen abspielen. Deswegen zählt zwingend bei Hilfsleistungen auch deren Beitrag zur politischen Konsensbildung: Was tragen sie dazu bei, dass die Gesellschaften sich nicht weiter spalten?
Was fehlt?
Ich vermisse die Einsicht, dass es entscheidend ist, wie die Lösungen erarbeitet werden und ob sie politisch dort tragfähig sind, wo sie zur Anwendung kommen. Natürlich braucht es Evidenz und Professionalität. Aber wenn diese nicht gleichzeitig mit politischer Konsensbildung einhergehen, wird es schwierig.
Wie kann das funktionieren?
Die Rotkreuz-Bewegung hat immer wieder versucht, Projekte und Programme so zu gestalten, dass verschiedene Gruppierungen zusammenarbeiten. Besonders gut hat das bei Wasserprojekten funktioniert, weil auch in einem Krieg beide Parteien Wasser brauchen. Letztlich gelang es immer wieder, Kriegsparteien dazu zu bewegen, Wassersysteme oder Gesundheitsinstitutionen gemeinsam zu bewirtschaften. Gute Projekte sind jene, die Menschen und die gespaltene Gesellschaft zusammenbringen.