Am Montag beginnt die Session mit dem neuen Parlament. Was erwarten Sie von dieser Legislatur?
Durch das starke Resultat der SVP wird es sicherlich schwieriger, Mehrheiten für soziale Themen im Nationalrat zu finden. Gleichzeitig ist der im Ständerat prognostizierte Rechtsruck ausgeblieben. Zudem hat es neu drei Menschen mit einer Beeinträchtigung im Nationalrat, im Vergleich zu einer Person in der letzten Legislaturperiode. Vieles wird nun von den Bundesratswahlen und der Verteilung der Departemente abhängen. Da aber bereits in dieser Legislaturperiode viel zu wenig für Menschen mit einer Behinderung getan wurde, haben die Behindertenorganisationen in diesem Jahr die Inklusionsinitiative lanciert und bereits im ersten halben Jahr über 70’000 Unterschriften gesammelt. Die Initiative wird im kommenden Jahr eingereicht. So steigt der politische Druck.
Ein Parteiprogramm in Leichter Sprache sollte heutzutage eigentlich Standard sein.
Fabian Putzing, Geschäftsführer insieme
insieme hat sich bei den vergangenen Wahlen für politische Partizipation von Schweizer Bürger:innen mit kognitiver Beeinträchtigung eingesetzt. Wie beurteilen Sie die Wirkung dieses Engagements?
Wir sind mit dem Ergebnis unserer Kampagne #ichwähle sehr zufrieden. Die Videos wurden über 150’000 Mal angeschaut. So konnten wir erreichen, dass Selbstvertreter:innen ihre Anliegen direkt gegenüber den Politiker:innen – wie etwa Frau Bundesrätin Baume-Schneider – aber auch gegenüber der breiten Öffentlichkeit platzieren konnten. Und die Wahlanleitung in Leichter Sprache, die wir zusammen mit der Bundeskanzlei und Capito Zürich erarbeiteten, wurde 20’000 Mal als Broschüre verteilt und ebenso oft heruntergeladen. Es zeigt sich also, dass leicht verständliche Informationen nachgefragt werden. Nun werden wir auf politischer Bühne aktiv, um die politische Partizipation von Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung umfassend sicherstellen zu können.
Wie können Parteien Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung den Zugang zur politischen Partizipation erleichtern.
Indem Sie Ihnen näherbringen, wofür sie stehen, und indem sie diesen Personen erleichtern, am Diskurs teilzunehmen. Ein Beispiel: Zum Abschluss unserer Kampagne haben wir in Bern ein Wahlbüro in Leichter Sprache organisiert und die Parteien dazu eingeladen. Nahezu alle Parteien sind der Einladung gefolgt und haben ihre Kandidat:innen zur Veranstaltung entsendet. Dort hatten wir die wichtigsten Punkte des jeweiligen Parteiprogramms in Leichter Sprache aufbereitet. So konnten sich Menschen mit einer kognitiven Beeinträchtigung informieren und ins Gespräch mit Politiker:innen kommen. Ein Parteiprogramm in Leichter Sprache sollte heutzutage eigentlich Standard sein.
2024 werden es zehn Jahre her sein, dass die Schweiz die UNO Behindertenrechtskonvention BRK ratifiziert hat. Wo steht Schweiz heute bei der Umsetzung?
Die Schweiz wurde 2022 auf ihre Leistungen in Bezug auf die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention vom UNO-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK-Ausschuss), überprüft. Das Ergebnis ist besorgniserregend. Die Schweiz verletzt in vieler Hinsicht die Rechte der 1,8 Millionen Menschen mit Behinderungen. Die von der Behindertenrechtskonvention (BRK) geforderte Inklusion wird auf allen Staatsebenen und in der Gesellschaft noch zu wenig gelebt. Ein Beispiel: in diesem Jahr läuft die im Behindertengleichstellungsgesetz festgelegte Frist von 20 Jahren für die vollständige Barrierefreiheit des öffentlichen Verkehrs aus. Dennoch sind erst 60 Prozent der Bahnhöfe für Menschen mit Behinderungen autonom nutzbar, Sanktionen für die Nichteinhaltung der Frist sind nicht zu erwarten, eigentlich ein Skandal. Auch diese Erkenntnis hat dazu geführt, dass sich die Organisationen der Behindertenhilfe gemeinsam mit den Organisationen der Selbstvertreter:innen und der Zivilgesellschaft zusammengefunden haben und die Inklusionsinitiative lanciert haben.
Der Bundesrat hat bestätigt, dass der in der Verfassung verankerte Stimmrechtsausschluss von urteilsunfähigen Personen, die unter umfassender Beistandschaft stehen, der BRK widerspricht. Welche Lösungen sehen Sie, um diesen Missstand zu beheben?
Dies sauberste Lösung wäre eine Verfassungsänderung dahingehend, dass auch die veraltete Formulierung «… und die nicht wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt sind …» entfernt wird. Es sollen alle Menschen, auch diejenigen die unter umfassender Beistandschaft stehen, das Recht haben, zu wählen. Zudem braucht es zugängliche Wahl- und Abstimmungsunterlagen. insieme Schweiz wird sich weiterhin dafür einsetzen.
Es sollen alle Menschen, auch diejenigen die unter umfassender Beistandschaft stehen, das Recht haben, zu wählen.
Fabian Putzing
Bei welchen Punkten besteht ansonsten der dringendste Handlungsbedarf, damit die Schweiz die Vorgaben der BRK erfüllt?
Menschen mit Behinderungen treffen in allen Lebensbereichen auf Hürden. Das zeigt auch die kürzlich von Pro Infirmis veröffentlichte Studie. Beispielsweise können viele Menschen nicht wählen, wo, mit wem und mit welcher Unterstützung sie wohnen möchten. Die freie Wahl des Wohnorts und der Wohnform ist ein Thema, bei dem dringend gehandelt werden muss. Zudem brauchen wir mehr Assistenz in allen Lebensbereichen, damit Menschen mit einer Beeinträchtigung selbstbestimmt am Leben teilnehmen können. Auch der Diskriminierungsschutz ist derzeit nicht zufriedenstellend. Das Behindertengleichstellungsgesetz bietet diesen nur unzureichend. Das Gesetz befindet sich in Überarbeitung, und der Diskriminierungsschutz muss auf das Niveau des Gleichstellungsgesetzes zwischen Mann und Frau angehoben werden.
Der Blick berichtete, dass der Kanton Solothurn die ausserschulische Betreuung von Kindern mit Beeinträchtigung streichen wolle. Sind diese Angebote in unserer Gesellschaft generell von Sparvorhaben bedroht?
Das hoffe ich nicht, die Schweiz ist eines der reichsten Länder der Welt und verfügt über die notwendigen Mittel, die für ein inklusive Gesellschaft bereitgestellt werden müssen. Familien mit Behinderungen haben die gleichen Bedürfnisse auf ausserschulische Betreuung, die behindertenbedingten Mehrkosten können problemlos von der Allgemeinheit getragen werden. Letzten Endes müssen wir uns alle fragen, wie wir leben möchten: In einer Gesellschaft, die Vielfalt und Integration fördert und lebt und von dieser letzten Endes auch ökonomisch profitiert, oder in einer Gesellschaft, in der Ungleichheit und Diskriminierung auf der Tagesordnung stehen.