insieme Geschäftsführer Fabian Putzing, Bild: Vera Markus

insieme: Den poli­ti­schen Druck erhöhen

Vor dem Start der Wintersession spricht insieme Geschäftsführer Fabian Putzing über politische Partizipation von Menschen mit Beeinträchtigung, die vergangenen Wahlen und den Stand der Umsetzung der UNO Behindertenkonvention – welche die Schweiz vor fast zehn Jahren ratifiziert hat.

Am Montag beginnt die Session mit dem neuen Parla­ment. Was erwar­ten Sie von dieser Legislatur?

Durch das starke Resul­tat der SVP wird es sicher­lich schwie­ri­ger, Mehr­hei­ten für soziale Themen im Natio­nal­rat zu finden. Gleich­zei­tig ist der im Stän­de­rat prognos­ti­zierte Rechts­ruck ausge­blie­ben. Zudem hat es neu drei Menschen mit einer Beein­träch­ti­gung im Natio­nal­rat, im Vergleich zu einer Person in der letz­ten Legis­la­tur­pe­ri­ode. Vieles wird nun von den Bundes­rats­wah­len und der Vertei­lung der Depar­te­mente abhän­gen. Da aber bereits in dieser Legis­la­tur­pe­ri­ode viel zu wenig für Menschen mit einer Behin­de­rung getan wurde, haben die Behin­der­ten­or­ga­ni­sa­tio­nen in diesem Jahr die Inklu­si­ons­in­itia­tive lanciert und bereits im ersten halben Jahr über 70’000 Unter­schrif­ten gesam­melt. Die Initia­tive wird im kommen­den Jahr einge­reicht.  So steigt der poli­ti­sche Druck.

Ein Partei­pro­gramm in Leich­ter Spra­che sollte heut­zu­tage eigent­lich Stan­dard sein.

Fabian Putz­ing, Geschäfts­füh­rer insieme

insieme hat sich bei den vergan­ge­nen Wahlen für poli­ti­sche Parti­zi­pa­tion von Schwei­zer Bürger:innen mit kogni­ti­ver Beein­träch­ti­gung einge­setzt. Wie beur­tei­len Sie die Wirkung dieses Engagements?

Wir sind mit dem Ergeb­nis unse­rer Kampa­gne #ichwähle sehr zufrie­den. Die Videos wurden über 150’000 Mal ange­schaut. So konn­ten wir errei­chen, dass Selbstvertreter:innen ihre Anlie­gen direkt gegen­über den Politiker:innen – wie etwa Frau Bundes­rä­tin Baume-Schnei­der – aber auch gegen­über der brei­ten Öffent­lich­keit plat­zie­ren konn­ten. Und die Wahl­an­lei­tung in Leich­ter Spra­che, die wir zusam­men mit der Bundes­kanz­lei und Capito Zürich erar­bei­te­ten, wurde 20’000 Mal als Broschüre verteilt und ebenso oft herun­ter­ge­la­den. Es zeigt sich also, dass leicht verständ­li­che Infor­ma­tio­nen nach­ge­fragt werden. Nun werden wir auf poli­ti­scher Bühne aktiv, um die poli­ti­sche Parti­zi­pa­tion von Menschen mit einer kogni­ti­ven Beein­träch­ti­gung umfas­send sicher­stel­len zu können.

Wie können Parteien Menschen mit kogni­ti­ver Beein­träch­ti­gung den Zugang zur poli­ti­schen Parti­zi­pa­tion erleichtern.

Indem Sie Ihnen näher­brin­gen, wofür sie stehen, und indem sie diesen Perso­nen erleich­tern, am Diskurs teil­zu­neh­men. Ein Beispiel: Zum Abschluss unse­rer Kampa­gne haben wir in Bern ein Wahl­büro in Leich­ter Spra­che orga­ni­siert und die Parteien dazu einge­la­den. Nahezu alle Parteien sind der Einla­dung gefolgt und haben ihre Kandidat:innen zur Veran­stal­tung entsen­det. Dort hatten wir die wich­tigs­ten Punkte des jewei­li­gen Partei­pro­gramms in Leich­ter Spra­che aufbe­rei­tet. So konn­ten sich Menschen mit einer kogni­ti­ven Beein­träch­ti­gung infor­mie­ren und ins Gespräch mit Politiker:innen kommen. Ein Partei­pro­gramm in Leich­ter Spra­che sollte heut­zu­tage eigent­lich Stan­dard sein.

2024 werden es zehn Jahre her sein, dass die Schweiz die UNO Behin­der­ten­rechts­kon­ven­tion BRK rati­fi­ziert hat. Wo steht Schweiz heute bei der Umsetzung?

Die Schweiz wurde 2022 auf ihre Leis­tun­gen in Bezug auf die Umset­zung der Behin­der­ten­rechts­kon­ven­tion vom UNO-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behin­de­run­gen (BRK-Ausschuss), über­prüft. Das Ergeb­nis ist besorg­nis­er­re­gend. Die Schweiz verletzt in vieler Hinsicht die Rechte der 1,8 Millio­nen Menschen mit Behin­de­run­gen. Die von der Behin­der­ten­rechts­kon­ven­tion (BRK) gefor­derte Inklu­sion wird auf allen Staats­ebe­nen und in der Gesell­schaft noch zu wenig gelebt. Ein Beispiel: in diesem Jahr läuft die im Behin­der­ten­gleich­stel­lungs­ge­setz fest­ge­legte Frist von 20 Jahren für die voll­stän­dige Barrie­re­frei­heit des öffent­li­chen Verkehrs aus. Dennoch sind erst 60 Prozent der Bahn­höfe für Menschen mit Behin­de­run­gen auto­nom nutz­bar, Sank­tio­nen für die Nicht­ein­hal­tung der Frist sind nicht zu erwar­ten, eigent­lich ein Skan­dal. Auch diese Erkennt­nis hat dazu geführt, dass sich die Orga­ni­sa­tio­nen der Behin­der­ten­hilfe gemein­sam mit den Orga­ni­sa­tio­nen der Selbstvertreter:innen und der Zivil­ge­sell­schaft zusam­men­ge­fun­den haben und die Inklu­si­ons­in­itia­tive lanciert haben.

Der Bundes­rat hat bestä­tigt, dass der in der Verfas­sung veran­kerte Stimm­rechts­aus­schluss von urteils­un­fä­hi­gen Perso­nen, die unter umfas­sen­der Beistand­schaft stehen, der BRK wider­spricht. Welche Lösun­gen sehen Sie, um diesen Miss­stand zu beheben?

Dies sauberste Lösung wäre eine Verfas­sungs­än­de­rung dahin­ge­hend, dass auch die veral­tete Formu­lie­rung «… und die nicht wegen Geis­tes­krank­heit oder Geis­tes­schwä­che entmün­digt sind …» entfernt wird. Es sollen alle Menschen, auch dieje­ni­gen die unter umfas­sen­der Beistand­schaft stehen, das Recht haben, zu wählen. Zudem braucht es zugäng­li­che Wahl- und Abstim­mungs­un­ter­la­gen. insieme Schweiz wird sich weiter­hin dafür einsetzen.

Es sollen alle Menschen, auch dieje­ni­gen die unter umfas­sen­der Beistand­schaft stehen, das Recht haben, zu wählen.

Fabian Putz­ing

Bei welchen Punk­ten besteht ansons­ten der drin­gendste Hand­lungs­be­darf, damit die Schweiz die Vorga­ben der BRK erfüllt?

Menschen mit Behin­de­run­gen tref­fen in allen Lebens­be­rei­chen auf Hürden. Das zeigt auch die kürz­lich von Pro Infir­mis veröf­fent­lichte Studie. Beispiels­weise können viele Menschen nicht wählen, wo, mit wem und mit welcher Unter­stüt­zung sie wohnen möch­ten. Die freie Wahl des Wohn­orts und der Wohn­form ist ein Thema, bei dem drin­gend gehan­delt werden muss. Zudem brau­chen wir mehr Assis­tenz in allen Lebens­be­rei­chen, damit Menschen mit einer Beein­träch­ti­gung selbst­be­stimmt am Leben teil­neh­men können. Auch der Diskri­mi­nie­rungs­schutz ist derzeit nicht zufrie­den­stel­lend. Das Behin­der­ten­gleich­stel­lungs­ge­setz bietet diesen nur unzu­rei­chend. Das Gesetz befin­det sich in Über­ar­bei­tung, und der Diskri­mi­nie­rungs­schutz muss auf das Niveau des Gleich­stel­lungs­ge­set­zes zwischen Mann und Frau ange­ho­ben werden.

Der Blick berich­tete, dass der Kanton Solo­thurn die ausser­schu­li­sche Betreu­ung von Kindern mit Beein­träch­ti­gung strei­chen wolle. Sind diese Ange­bote in unse­rer Gesell­schaft gene­rell von Spar­vor­ha­ben bedroht?

Das hoffe ich nicht, die Schweiz ist eines der reichs­ten Länder der Welt und verfügt über die notwen­di­gen Mittel, die für ein inklu­sive Gesell­schaft bereit­ge­stellt werden müssen. Fami­lien mit Behin­de­run­gen haben die glei­chen Bedürf­nisse auf ausser­schu­li­sche Betreu­ung, die behin­der­ten­be­ding­ten Mehr­kos­ten können problem­los von der Allge­mein­heit getra­gen werden. Letz­ten Endes müssen wir uns alle fragen, wie wir leben möch­ten: In einer Gesell­schaft, die Viel­falt und Inte­gra­tion fördert und lebt und von dieser letz­ten Endes auch ökono­misch profi­tiert, oder in einer Gesell­schaft, in der Ungleich­heit und Diskri­mi­nie­rung auf der Tages­ord­nung stehen.

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