Igno­rier­tes Potenzial

Unnötige und unflexible Hürden verwehren Fachkräften den Zugang zur Wirtschaft. Gleichzeitig leidet diese an einem Fachkräftemangel.

«Am Anfang stand eine Sensi­bi­li­sie­rungs­kam­pa­gne, die wir mit dem Schwei­zer Arbeit­ge­ber­ver­band (SAV) und Gewer­be­ver­bän­den zusam­men lanciert hatten», sagt Virgi­nia Suter, Bereichs­lei­te­rin Inland beim Hilfs­werk der Evan­ge­lisch-refor­mier­ten Kirche Schweiz (HEKS). Die Kampa­gne sollte das Poten­zial an Fach­kräf­ten vor der eige­nen Haus­tür aufzei­gen: Viele Menschen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund in der Schweiz sind quali­fi­zierte Arbeits­kräfte. Eigent­lich könn­ten sie ein Bedürf­nis der Wirt­schaft decken und einen volks­wirt­schaft­li­chen Mehr­wert stif­ten. Teils unnö­tige admi­nis­tra­tive Hürden und fehlende Flexi­bi­li­tät bei den Unter­neh­men verhin­dern dies. Die Kampa­gne wollte auf diese Hürden aufmerk­sam machen und Unter­neh­men dafür sensi­bi­li­sie­ren, wie sie vorhan­dene Ressour­cen unge­wollt brach­lie­gen lassen. Es zeigte sich, dass die Sensi­bi­li­sie­rung nur ein erster Schritt ist, um das Poten­zial zu akti­vie­ren. Aus dieser Erfah­rung entstand HEKS MosaiQ: eine Fach­stelle, die gut quali­fi­zierte Migrant:innen und Geflüch­tete auf dem Weg in die Arbeits­welt beglei­tet und der Wirt­schaft hilft, das Poten­zial zu nutzen. «Unser Ange­bot hat sich seit­her stark entwi­ckelt», sagt Suter. Neben der Sensi­bi­li­sie­rung geht es vor allem auch um, das Coaching und das Vermit­teln der Kandidat:innen. Ein Schwer­punkt des Programms bildet die Unter­stüt­zung bei der Aner­ken­nung von Diplo­men aus dem Ausland. Aber gerade bei regle­men­tier­ten Beru­fen wie im Gesund­heits­be­reich gibt es Hürden, die kaum über­wind­bar sind. «So können Fach­kräfte aus Dritt­staa­ten ihren Beruf nicht ausüben, obwohl sie über die gefor­der­ten Kompe­ten­zen verfügen.»

Den Code finden

HEKS MosaiQ fördert den Einstieg in einen den Quali­fi­ka­tio­nen entspre­chen­den Beruf. Einen ande­ren Weg hat Power­co­ders einge­schla­gen. Die gemein­nüt­zige Orga­ni­sa­tion rekru­tiert Menschen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund gezielt für die IT-Bran­che – ein typi­scher Bereich mit gros­sem Fach­kräf­te­man­gel. Oft verfü­gen sie über einen Bache­lor, Master oder gar PhD. Nur können sie auf ihrem ursprüng­li­chen Beruf in der Schweiz kaum arbei­ten, weil die Hürden zu hoch sind. Mit einer zusätz­li­chen Ausbil­dung in IT werden sie dage­gen zu einer gesuch­ten Fach­kraft. So kann ein Anwalt mit IT-Know-how für ein Unter­neh­men wert­voll sein – ebenso eine Mathe­ma­tik­leh­re­rin oder eine ehema­lige Finanz­kraft mit neuen IT-Skills. Power­co­ders entstand 2017 als Reak­tion auf die Flücht­lings­krise. In dieser Zeit gab es bereits einen gros­sen Mangel an IT-Fachkräften.

Sie wollen sich sozial enga­gie­ren und erken­nen den ökono­mi­schen Wert erst später.

Chris­tina Gräni, Powercoders

«Deswe­gen star­te­ten wir ein IT-Upskil­ling-Programm», erklärt Chris­tina Gräni, Medi­en­spre­che­rin Power­co­ders. Anfangs lag der Fokus auf Coding. Später kamen Ange­bote in Data-Science, Cyber­se­cu­rity, IT-Support und ‑Projekt­ma­nage­ment hinzu. «Wir haben gese­hen, dass dieses Bedürf­nis besteht», sagt Gräni. Diese Anpas­sung hat sich nun als Vorteil erwie­sen. Denn gerade Jobs in der Web- und Soft­ware­ent­wick­lung wandern zuneh­mend ins güns­ti­gere Ausland. Das Ange­bot ist gesucht. 365 Menschen haben eine Weiter­bil­dung bei Power­co­ders abge­schlos­sen, 90 Prozent fanden einen Prak­ti­kums­platz und 70 Prozent eine feste Stelle. Der Flaschen­hals sind die Prak­ti­kums­plätze. Nur zwei­mal 30 Kandidat:innen können jähr­lich aufge­nom­men werden. «Wir sind kein Ausbil­dungs­pro­gramm», sagt Gräni. Kandidat:innen werden deswe­gen nur mit Aussicht auf eine Prak­ti­kums­stelle genom­men. Passende Unter­neh­men zu finden, bleibt eine Herausforderung.

Sensi­bi­li­sie­rung bleibt zentral

Das Programm HEKS MosaiQ star­tet für die Kandidat:innen mit einer Poten­zi­al­ab­klä­rung. Davon wurden im letz­ten Jahr 1000 durch­ge­führt. Im Anschluss folgen Coachings zur beruf­li­chen Inte­gra­tion. Über 300 Coaching-Sessi­ons hat HEKS MosaiQ ange­bo­ten, 230 Diplo­man­erken­nun­gen beglei­tet. Zudem konn­ten im Programm 50 Prak­tika vermit­telt, 62 Fest­an­stel­lun­gen ermög­licht und 35 Weiter­bil­dun­gen gestar­tet werden. Diese Zahlen sind nicht reprä­sen­ta­tiv für den wahren Erfolg des Programms. Suter sagt, dass nach der Poten­zi­al­ab­klä­rung der Weg bei vielen Perso­nen klar sei – oder finde jemand nach dem Coaching eine Stelle, muss sie dies HEKS MosaiQ nicht melden. Dennoch ist Suter über­zeugt, mit der Sensi­bi­li­sie­rung noch mehr errei­chen zu können. Zum Teil schei­tern Kandidat:innen, obschon sie über aner­kannte Diplome verfü­gen, am Rekru­tie­rungs­pro­zess, weil dieser zu stark 08/15-Berufs­er­fah­run­gen aus der Schweiz voraus­setzt. Zum Teil zeigt sich auch, dass eine Anstel­lung in einem verwand­ten Arbeits­feld einfa­cher zu errei­chen ist. 

Das sind die Puzzle­teil­chen, die wir versu­chen zusammenzusetzen.

Virgi­nia Suter, HEKS

Eine entspre­chende Umschu­lung kann helfen, auf den vorhan­de­nen Fach­kom­pe­ten­zen aufzu­bauen. So kann eine zeit­lich fort­schrei­tende Dequa­li­fi­zie­rung verhin­dert werden. Suter stellt fest, dass insbe­son­dere Frauen aufgrund gesell­schaft­li­cher Struk­tu­ren, unglei­cher Förder­pra­xis und unzu­rei­chen­der Verein­bar­keit von Beruf und Fami­lie eine solche Erfah­rung mach­ten. Diese Hürden abzu­bauen, daran arbei­tet HEKS MosaiQ. «Das sind die Puzzle­teil­chen, die wir versu­chen zusam­men­zu­set­zen», sagt Suter. In vielen Berei­chen wünscht sie sich mehr Flexi­bi­li­tät der Arbeitgeber:innen. Dies würde helfen, den Fach­kräf­te­man­gel abzu­bauen und die Menschen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund in den Arbeits­markt zu inte­grie­ren. Das gefor­derte Sprach­ni­veau sollte sich stär­ker am effek­ti­ven Bedarf orien­tie­ren. Es bleibt ein Schlüs­sel­thema: ‹Gerade in Pflege- und Sozi­al­be­ru­fen gelten hohe Anfor­de­run­gen›, sagt Suter. «Auch die soge­nannte «Zero-Gap»-Anforderung – die Rekru­tie­rungs­stra­te­gie mit dem Ziel einer perfek­ten Passung auf das Kompe­tenz­pro­fil der Stel­len­aus­schrei­bung– ist oft ein unnö­ti­ges Hindernis.»

Wirkung mit sozia­ler Haltung

Power­co­ders kommu­ni­ziert konse­quent auf Englisch – auch, weil dies die Kommu­ni­ka­tion zwischen Team­mit­glie­dern aus der West- und der Deutsch­schweiz verein­facht. «Es ist der kleinste gemein­same Nenner», sagt Gräni. Dennoch ist das Beherr­schen einer Landes­spra­che ein Vorteil. Die meis­ten Kandidat:innen errei­chen ein gutes Niveau. Das macht es für die Unter­neh­men einfa­cher, die Arbeits­kräfte zu inte­grie­ren. Für einige ist der soziale Aspekt Moti­va­tion zum Mitma­chen. «Sie wollen sich sozial enga­gie­ren und erken­nen den ökono­mi­schen Wert erst später», sagt Gräni. «Andere star­ten gezielt, weil sie Fach­kräfte suchen.»

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