Man stelle sich vor, der Sohn oder die Tochter müsse mit 18 von zu Hause ausziehen und dürfe weder zurückkehren noch die Eltern um Rat fragen. So ähnlich ergeht es jungen Erwachsenen, die einen Teil ihrer Kindheit im Heim oder in einer Pflegefamilie verbracht haben: Mit Erreichen der Volljährigkeit müssen sie die stationäre Jugendhilfe verlassen. Die «Careleaver» müssen ihr Leben plötzlich selber regeln. Sie müssen eine Wohnung suchen, für ihren Lebensunterhalt sorgen oder Stipendien beantragen, aber auch Beziehungskrisen, Prüfungsängste oder Geldsorgen allein bewältigen. Der Übergang in die Selbstständigkeit ist für die meisten jungen Menschen eine Herausforderung, für Careleaver aber umso mehr, da sie auf kein stabiles soziales Netz zurückgreifen können. Frühere Bezugspersonen wie Beistand und Sozialarbeiter sind nach dem Wechsel vom Jugend- zum Erwachsenenschutz nicht mehr zuständig.
Keine Chancengerechtigkeit
Erschwerend kommt hinzu, dass es kein schweizweites Kinder- und Jugendhilfegesetz gibt und die kantonalen Bestimmungen grosse Unterschiede aufweisen. Während es in den Kantonen Zürich, Basel, Luzern und Bern ermöglicht werden kann, bis 25 im Heim zu bleiben, um die Erstausbildung abzuschliessen, ist in allen anderen Kantonen mit 18 Schluss. «Für Careleaver besteht keine Chancengerechtigkeit», fasst Miriam Halter, Präsidentin von Careleaver Schweiz, die Situation zusammen. Oft entscheiden sich die jungen Menschen dann nicht für die Ausbildung, die sie gerne machen möchten, sondern für eine, bei der sie schnellstmöglich Geld verdienen. Und oft bleibt ihnen nur der Gang aufs Sozialamt, weil die Eltern keine Beiträge zahlen können oder wollen.
Careleaver Schweiz möchte die Öffentlichkeit und Fachkräfte auf die herausfordernde Situation von Careleavern und die systemischen Lücken in der Betreuung nach dem Ende der stationären Jugendhilfe aufmerksam machen. Der Verein entstand 2021 aus einem Forschungsprojekt der Fachhochschule Nordwestschweiz und der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften heraus, an dem sich mehrere ehemalige Heim- und Pflegekinder beteiligt hatten. In der Folge bildeten sich in den Regionen Zürich, Basel, Bern und Zentralschweiz regionale Netzwerke, die sich heute unter dem Dach von Careleaver Schweiz befinden. «Als Dachorganisation übernehmen wir die administrativen Arbeiten, damit sich die regionalen Netzwerke ganz auf ihre Mitglieder konzentrieren können», sagt Miriam Halter. Die Netzwerke bieten individuelle Unterstützung bei Fragen wie Wohnen, Finanzen oder berufliche Bildung an. Zentral sind die regionalen Netzwerkanlässe, an denen sich die Careleaver austauschen, ihre Erfahrungen teilen und gemeinsam Zeit verbringen können.
Peers teilen Erfahrungen
Miriam Halter ist, wie alle Mitglieder in der Dachorganisation und den regionalen Netzwerken, selbst eine ehemalige Careleaverin. «Wir stehen als Peers zur Verfügung, die aufgrund persönlicher Care-Erfahrungen weiterhelfen. Manche von uns haben auch eine fachliche Ausbildung, die jedoch nicht im Vordergrund steht», betont die 40-Jährige. Der Grossteil der Tätigkeiten erfolgt ehrenamtlich, neben Job und Familie. «Meiner Erfahrung nach haben Careleaver ein grosses Bedürfnis, anderen zu helfen», sagt Halter, die zusätzlich zum Präsidium auch das Netzwerk in der Zentralschweiz leitet. Dennoch sei es auch für Careleaver Schweiz beziehungsweise die regionalen Netzwerke schwierig, Leute zu finden, die sich langfristig engagieren. Zur zeitlichen kommt auch eine emotionale Belastung hinzu, weil die Mitglieder in den Beratungen mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert werden: «Ich habe immer wieder mit Jugendlichen zu tun, die mir quasi meine eigene Lebensgeschichte erzählen. Da frage ich mich manchmal schon, wann die gesetzlichen Verbesserungen der letzten 20 Jahre in der Praxis umgesetzt werden.»
Careleaver weiter stärken
Eigentlich möchte der Verein weiter wachsen, neue Netzwerke auch ausserhalb der Deutschschweiz aufbauen und Projekte wie Careleaver Support, über das künftigen Careleavern ein Starter-Paket zur Verfügung gestellt wird, weiterführen; mit den aktuellen Ressourcen sei ein Ausbau jedoch extrem schwierig, sagt Halter. Motivierend sind die Erfolge, die der Verein in den wenigen Jahren seines Bestehens erreicht hat: Das Netzwerk Region Zürich erhält mittlerweile Subventionen vom Kanton; die übrigen Netzwerke werden über Stiftungen finanziert. Basel-Stadt hat kürzlich als erster Kanton den Careleaver-Status anerkannt: Damit können die Betroffenen Anträge auf Stipendien oder andere staatliche Unterstützungsleistungen stellen, ohne dass sie Papiere oder Unterschriften der Eltern vorlegen müssen. Auch die Politik hat die Bedürfnisse der Careleaver erkannt: So reichte die SP-Nationalrätin Sarah Wyss 2023 ein Postulat ein, das vom Bundesrat Vorschläge verlangte, um die Finanzierung des Lebensbedarfs für Careleaver während der Ausbildung bis 25 zu verbessern. Das Postulat wurde im Nationalrat zwar abgelehnt, mit fünf Stimmen Unterschied aber nur ganz knapp. Trotz der Ablehnung sei das ein schönes Zeichen, das zeige, dass der Bedarf auf allen Ebenen anerkannt werde, sagt Miriam Halter: «In der kurzen Zeit, in der wir in der Schweiz präsent sind, haben wir vieles erreicht, um das Stigma der Careleaver abzubauen. Diese Sensibilisierungsarbeit ist uns sehr wichtig: Noch immer meinen viele Menschen, dass Heim- und Pflegekinder aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten selbst für ihre Situation verantwortlich sind. Dabei sind es ja die Eltern, die Probleme haben.»