Warum haben Sie Ihre Studie jetzt geschrieben?
Hazal Atay: Die Geschlechterparität wurde in Frankreich in verschiedenen Bereichen und Tätigkeitsfeldern diskutiert. Der Philanthropiesektor blieb von diesen Diskussionen jedoch weitgehend ausgeschlossen. Mehrere Gesetze zur Geschlechterparität wurden für gewisse politische Wahlen oder für die Leitung großer Unternehmen erlassen. Doch diese Gesetzt betrafen den Philanthropiesektor kaum. Auch wurde die Geschlechterparität in Stiftungen und Stiftungsfonds bisher gar nicht oder nur am Rande untersucht. Es gab eine Lücke in der Literatur zu diesem Thema.
Das hat Sie neugierig gemacht?
H.A.: Ja. Dieser Mangel an Regelungen zur und Diskussionen über die Geschlechterparität im und für den Philanthropiesektor hat uns neugierig gemacht. Wir wollten eine Vorstudie durchführen, um den aktuellen Stand im Philanthropiesektor in Frankreich zu beleuchten. Damit wollten wir auch weitere Gespräche und Studien zu diesem Thema anregen. Zu diesem Zweck haben wir Daten über die geschlechtsspezifische Zusammensetzung von Stiftungsräten gesammelt. Auch haben wir 21 Interviews mit Stiftungsratsmitgliedern und Geschäftsführer:innen von Stiftungen geführt.
In den vergangenen 20 Jahren ist bei gemeinnützigen Stiftungen ein langsamer Fortschritt zu beobachten.
Anne Cornilleau
Was sind die wichtigsten Ergebnisse der Studie?
Anne Cornilleau: Frauen bleiben in Leitungsfunktionen von Stiftungen und Stiftungsfonds in Frankreich nach wie vor untervertreten; sie machen ein Drittel der in dieser Studie untersuchten Stiftungsräte aus. In den vergangenen 20 Jahren ist bei gemeinnützigen Stiftungen ein langsamer Fortschritt zu beobachten: Während 2001 bei 15 Prozent der Stiftungssräte Geschlechterparität erreicht wurde, sind es 2021 bereits 29 Prozent. Dabei haben wir festgestellt, dass die Geschlechterparität in Unternehmensstiftungen und in kleinen Stiftungsräten bereits weiter verbreitet ist. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Unternehmensstiftungen häufig von Unternehmen gegründet werden, für die seit der Verabschiedung eines französischen Gesetzes im Jahr 2011 Geschlechterquoten in Verwaltungsräten obligatorisch sind. Auch muss betont werden, dass die Größe des Stiftungsrats mit dem Umfang und den finanziellen Mitteln der Stiftungen zusammenhängt. So könnte man annehmen, dass die Organisationen mit den größten strategischen Gremien dazu neigen, mit viel Macht und einen hohen persönlichen Status verbunden zu sein. Dies könnte die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern noch verschärfen.
Sie stellen fest, dass im französischen Stiftungssektor ein großes Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern besteht. Wie analysieren Sie die Situation?
A.C.: Das Problem ist eigentlich ein zweifaches: Einerseits sind Frauen in den Stiftungsräten untervertreten. Anderseits kann es selbst in Gremien, in welchen eine geschlechterparitätische Vertretung zu bestehen scheint, zu einer ungleichen Verteilung der Aufgaben und Verantwortlichkeiten kommen. In der Tat haben wir festgestellt, dass Frauen seltener den Vorsitz in den Stiftungsräten innehaben und eher mit der Rolle der Sekretärin betraut werden.
H.A.: Dies deutet darauf hin, dass es in Frankreich eine gläserne Decke in Stiftungen und Stiftungsfonds gibt; Der philanthropische Sektor ist sehr «weiblich», aber wir sehen, dass Frauen in diesen Strukturen nicht in die Leitung einbezogen sind. Selbst in den Gremien, in welchen Frauen und Männer gleich stark vertreten sind, besteht eine geschlechtsstereotype Arbeitsteilung, und Frauen werden Rollen mit weniger Entscheidungsbefugnis zugewiesen.
Selbst in den Gremien, in welchen Frauen und Männer gleich stark vertreten sind, besteht eine geschlechtsstereotype Arbeitsteilung.
Hazal Atay
Die Ursachen für dieses Problem sind vielfältig. Sie liegen u. a. in der mangelnden Sensibilisierung und Diskussion über Geschlechterparität, Diversität und Inklusion für und im Philanthropiesektor sowie in den sozialen Ungleichheiten, die in der französischen Gesellschaft fortbestehen.
Ist Geschlechterparität also mehr als eine zahlenmäßig ausgewogene Vertretung in einem Vorstand?
A.C.: Bei der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern geht es nicht nur um die zahlenmäßige Untervertretung von Frauen und auch nicht nur um die Überrepräsentation von Männern. Wir sehen, dass die Ungleichheit der Geschlechter ein Phänomen ist, das sich auf verschiedenen Ebenen reproduziert und sowohl vertikal als auch horizontal wirkt. Frauen sind nicht nur durch eine gläserne Decke eingeschränkt. Sie werden auch bei den Rollen, die sie auf einer bestimmten Tätigkeitsebene einnehmen oder zugewiesen bekommen, diskriminiert. Darüber hinaus hat die Ungleichheit der Geschlechter auch eine kulturelle und symbolische Bedeutung. In dem Maße, wie sie reproduziert wird, wird sie Teil der Kultur. Bereiche oder Rollen, von denen Frauen ausgeschlossen sind, werden zunehmend zu männlichen Bereichen und Rollen.
Die Ungleichheit der Geschlechter hat auch eine kulturelle und symbolische Bedeutung.
Anne Cornilleau
Da die Funktionsweise und die Auswirkungen von Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern mehrdimensional sind, muss auch unser Ansatz zur Geschlechterparität mehrdimensional sein. In diesem Zusammenhang betonen wir in dem Bericht, dass die Geschlechterparität sowohl horizontal als auch vertikal ist. Geschlechterparität ist also weit mehr als ein zahlenmäßiges Gleichgewicht, sie ist sowohl qualitativ und quantitativ zu verstehen. Dies wurde auch in den Interviews deutlich, in denen die Stiftungen einen übergreifenden Ansatz zur Geschlechterparität verfolgten. Die Stiftungsvertreter:innen sagten, dass sie die Herausforderung der Geschlechterparität mit vielen anderen stiftungsinternen und ‑externen Themen verknüpft sehen. Für viele von ihnen ist die Geschlechterparität auch eine Frage der Inklusion und Vielfalt. Sie sehen sie auch als integralen Bestandteil ihrer Arbeit an und vertraten die Auffassung, dass Stiftungen mit gutem Beispiel vorangehen sollten, um mehr Gleichstellung, Vielfalt und Inklusion zu erreichen.
Was können Stiftungen tun, um etwas zu ändern?
H.A.: In dem Bericht schlagen wir einige realisierbare Schritte vor, mit welchen Stiftungen die Geschlechterparität erreichen können. Alles beginnt mit der Sensibilisierung für das Thema und die damit zusammenhängenden Fragen. In diesem Kontext müssen Stiftungen die Entwicklungen und Diskussionen über Geschlechterparität verfolgen, die in verschiedenen Sektoren und in der Welt stattfinden. Sie müssen sich als Beteiligte und nicht als Ausgeschlossene an diesen Diskussionen verstehen. Die Sensibilisierung für Werte und Grundsätze ist wichtig, aber darauf muss eine Bewertung der Situation der Geschlechterparität in der Stiftung folgen. Zu diesem Zweck empfehlen wir insbesondere die Erhebung von nach Geschlechtern aufgeschlüsselten Daten, um zu verstehen, wie es um die Geschlechterparität in einer bestimmten Stiftung bestellt ist. Eine solche Bewertung liefert uns jedoch nur eine Diagnose der aktuellen Situation. Die Stiftungen müssen auch Brainstorming-Sitzungen organisieren, um über diese Bewertungen nachzudenken. Diese Sitzungen können auch dazu dienen, andere Themen im Zusammenhang mit der Geschlechterparität zu erörtern, wie bspw. Vielfalt und Integration, und können auch auf Diskussionen mit anderen Stiftungen oder innerhalb von Netzwerken ausgeweitet werden. Ideal ist es, wenn Stiftungen einen Aktionsplan oder einen Fahrplan ausarbeiten, in dem sie ihre Verpflichtungen und Maßnahmen auf dem Weg zur Geschlechterparität im Einzelnen festlegen; nur mit einem solchen konkreten Plan können wir den diagnostischen Bericht, die Bewertung, in einen präskriptiven Bericht für einen schrittweisen Wandel umwandeln. Bei der Umsetzung von Aktionsplänen können Stiftungen in die Einführung von Bewerbungsverfahren zur Förderung der Vielfalt in den Stiftungsräten investieren und Kapazitäten aufbauen, indem sie Sensibilisierungskampagnen oder Schulungen zu Geschlechterparität, Vielfalt und Integration organisieren.
Ideal ist es, wenn die Stiftungen einen Aktionsplan oder einen Fahrplan ausarbeiten.
Hazal Atay
Der Prozess hin zur Geschlechterparität muss ein fortlaufender Prozess sein, bei dem die Gleichstellung der Geschlechter auf der Tagesordnung bleibt und angegangen wird. Neue Ungleichheiten können entstehen oder sie können die Geschlechterparität gefährden, selbst wenn diese bereits erreicht wurde.
Welche Rolle können Stiftungen bei der Verwirklichung der Geschlechterparität spielen?
H.A.: Die Geschlechterparität steht für ein gesellschaftliches und institutionelles Ideal und ist daher eine Angelegenheit von öffentlichem Interesse. In den Interviews brachten die leitenden Mitglieder von Stiftungen zum Ausdruck, dass der Philanthropiesektor mit gutem Beispiel vorangehen kann, um einen gesellschaftlichen Wandel in Bezug auf die Gleichheit der Geschlechter zu unterstützen. Für einige der Befragten war dies eine Frage der Kohärenz; da sich Stiftungen der Verwirklichung des öffentlichen Interesses verschrieben haben, müssen sie sich auch für die Gleichstellung der Geschlechter einsetzen. In der Tat können Stiftungen eine führende Rolle spielen, um eine Veränderung zu Geschlechterparität zu bewirken.
Zur Studie: Gender Parity: Challenges, issues, and opportunities for foundations and endowment funds in France