Miteinander durch Wälder streifen und ausgelassen lachen. Gemeinsam weinen und Wertschätzung erfahren. Oder einfach da sein und Sicherheit geben – entscheidend für eine Beziehung ist ihre Qualität. Das Fehlen von zuverlässigen Freundschafts‑, Verwandtschafts- oder Nachbarschaftsbeziehungen führt nicht selten zu sozialer Isolation. Einsamkeit kann alle treffen. Im Unterschied zum Alleinsein, das Betroffene auch positiv empfinden können, fehlt bei der Einsamkeit der gesellschaftliche Anschluss.
Kürzere Lebenserwartung
Prozentual nimmt der Anteil an Menschen, die sich manchmal oder oft einsam fühlen – gemäss Zahlen des Bundesamts für Statistik – mit steigendem Alter zwar ab. Laut dem Altersmonitor von Pro Senectute Schweiz leiden aber noch immer 26,6 Prozent der über 55-Jährigen unter Einsamkeit. Schweizweit entspricht dies rund 444’500 Personen. Und für sie nimmt wegen der Einsamkeit das Risiko mentaler und körperlicher Erkrankungen erheblich zu. Besonders stark ausgeprägt ist das Gefühl der Einsamkeit bei Menschen über 85 Jahren: Über ein Drittel (36,8 Prozent) dieser Altersgruppe leidet darunter. Gemäss Gesundheitsförderung Schweiz haben ältere Menschen, die sich einsam fühlen, eine kürzere Lebenserwartung, denn sie leiden häufig unter hohem Blutdruck und depressiven Episoden.
Kritische Lebensereignisse
Im Alter kommt die Zeit, sich von Vielem zu verabschieden. Oft sind kritische Lebensereignisse geprägt von Verlusten. Todesfälle von Verwandten, eines Partners oder einer Freundin können ebenso zur Isolation führen wie die Pensionierung oder eine Trennung. Das soziale Netzwerk und die soziale Teilhabe nehmen im Alter, insbesondere ab 75 Jahren, nachweislich ab, schreibt Gesundheitsförderung Schweiz.
Einsamkeitsstrategie fehlt
Die Schweiz hat keine nationale Strategie gegen Einsamkeit. Der Verein connect! möchte diese Lücke schliessen – gemeinsam mit einem hochkarätig besetzten wissenschaftlichen Beirat und Forschenden aus der ganzen Schweiz. Denn Einsamkeit verursacht grosses Leid und bringt gemäss internationalen wissenschaftlichen Erkenntnissen erhebliche gesundheitliche und volkswirtschaftliche Auswirkungen mit sich, vergleichbar mit jenen des Tabakkonsums und des Übergewichts. Der 2023 gegründete Verein koordiniert ein Netzwerk von Akteur:innen aus Kantonen, Gemeinden, Institutionen und Organisationen der Zivilgesellschaft. Thomas Pfluger, Co-Programmleiter des Vereins «connect!», sagt:
Wir erarbeiten gemeinsam Massnahmen zur Prävention und Reduktion von Einsamkeit.
Dazu gehören, so Pfluger, unter anderem eine bessere Sensibilisierung der Bevölkerung zur Bedeutung von Einsamkeit und die Entwicklung spezieller Instrumente zur Erfassung und Unterstützung einsamer Menschen.
Gemeinsamer Aktionsplan
Der Verein nimmt eine rund zehnjährige Arbeitsperspektive ein. «Für die ersten drei Jahre haben wir unter Beteiligung zahlreicher Wissenschaftler:innen und Fachpersonen aus der Praxis einen Aktionsplan ausgearbeitet», erläutert Pfluger. «Er basiert auf den aktuellen Erkenntnissen der Wissenschaft und Praxis und ist speziell auf ältere Menschen ausgerichtet.» Die Arbeit wird durch eine breite finanzielle Unterstützung der Age-Stiftung, der Elly Schnorf-Schmid Stiftung, der Dr. med. Kurt Fries-Stiftung, der Ernst Göhner Stiftung und der Beisheim Stiftung ermöglicht. Nun wird der Aktionsplan mit den Partnern umgesetzt. «Wir sind angewiesen auf eine längerfristige Finanzierung», betont der Co-Programmleiter.
Grosses Interesse
Am 20. Februar 2025 fand die erste Fachtagung von «connect!» zum Thema Einsamkeit statt. Das Interesse war sehr gross, die Veranstaltung gar ausgebucht. Fachpersonen aus Sozialarbeit, Pflege, Medizin, Psychologie, Kirchen, Altersverbänden sowie Vertreter:innen von Gemeinden und Kantonen aus der ganzen Schweiz nahmen teil. Das breite Interesse zeigt, dass es Koordinations- und Kommunikationsbedarf beim Thema gibt. «In der Schweiz gibt es viele Angebote für einsame Menschen, aber oft werden sie nicht genutzt. Unser Ziel ist es, den Zugang zu verbessern», versichert Pfluger. Eines der vielen Angebote ist das Projekt «Einsamkeit im Alter – Wege aus der Einsamkeit» des Schweizer Instituts für Sucht- und Gesundheitsforschung (ISGF). Initiiert wurde es unter anderem mit finanzieller Unterstützung von Gesundheitsförderung Schweiz. Das Institut ist ein assoziiertes Institut der Universität Zürich.
Theater als Eisbrecher
Auch das Thema Alkohol im Alter wird stark tabuisiert – Einsamkeit kann eng mit einer Alkoholsucht verknüpft sein. «Theater ist ein unglaublich guter Türöffner – es greift das schwierige Thema Einsamkeit spielerisch auf und bringt Menschen ins Gespräch», sagt Susanne Schaaf vom ISGF. Gesprächsführer ist Marius Leutenegger, Autor und Journalist, der das Thema mit viel Feingefühl aufgreift und Menschen zum Sprechen bringt. «Einsamkeit im Alter» will die soziale Teilhabe von Menschen über 65 Jahren fördern.
Um dies zu erreichen, setzt das Projekt auf Theater. Ein Stück wird jeweils von vier Schauspieler:innen im Seniorenalter aufgeführt, mit denen sich die Zuschauer:innen identifizieren können. Mit dem Theater und dem moderierten Austausch als interaktives Format macht das Projekt «Einsamkeit im Alter» das Thema sichtbar und bringt Betroffene ins Gespräch. Durch alltagsnahe Szenen – etwa einen Spaziergang in der Natur oder eine Begegnung ausserhalb der eigenen Wohnung – und moderierte Diskussionen entsteht ein lebendiger Austausch. Das Projekt richtet sich an mobile ältere Menschen. Susanne Schaaf fügt an:
An unseren Anlässen nehmen oft auch ältere Menschen mit Beeinträchtigungen teil, seien es Mobilitätseinschränkungen oder Hör- und Sehprobleme. Auch auf die Bedürfnisse und Möglichkeiten dieser Personen gehen wir ein.
Das ISGF setzt das Projekt in Zusammenarbeit mit Kirchgemeinden, Gemeinden und lokalen Altersorganisationen um. Ziel ist es, niederschwellige Begegnungen zu fördern und soziale Isolation durch aktive Teilhabe zu überwinden. «Wir wollten keinen ‹knorzigen› Workshop, in dem die Teilnehmenden betreten schweigen», betont die Forscherin.
Mit dem Pilotprojekt 2022/2023 in den Kantonen Zürich und Bern konnten sie über 1000 ältere Menschen erreichen. Aufgrund des grossen Erfolgs führen sie das Projekt weiter. Stiftungen und Deutschschweizer Kantone unterstützen das Vorhaben finanziell. Gleichzeitig mit der Theatergruppe lancierte das Projekt «Einsamkeit im Alter» einen SMS-Dienst. Dieser sollte ältere Menschen mit kurzen Nachrichten auf lokale Veranstaltungen aufmerksam machen und sie motivieren, aktiv zu werden.
Schnell zeigte sich jedoch: Das Angebot wurde von den über 80-jährigen Personen, die oft kein Handy besitzen, kaum genutzt – persönliche Begegnungen sind ihnen wichtiger.
Leicht zugänglich
«Anregungen und Aktivitäten müssen niedrigschwellig sein: Ein gemeinsamer Spaziergang oder ein Kaffee können der erste Schritt aus der Isolation bedeuten», sagt Schaaf. Als Konsequenz aus den zurückhaltenden Erfahrungen mit dem SMS-Dienst wird der Fokus auf beziehungsorientierte Formate gelegt: An unseren Theateranlässen sollen lokale Organisationen mit Ständen vor Ort präsent sein, um ihre Angebote persönlich vorzustellen. Es gibt Kaffee und Kuchen, und die Teilnahme ist ohne jegliche Hürden möglich.
«Einsamkeit im Alter wird oft unterschätzt. Auch für pflegende Angehörige kann dies eine belastende Situation sein, wenn sie kaum noch Zeit haben, soziale Kontakte ausser Haus zu pflegen», gibt Schaaf zu bedenken. Sie ergänzt:
Einsamkeit ist keine Einbahnstrasse – es ist ein Geben und Nehmen, und wer gibt, im Rahmen von Freiwilligenarbeit wie beispielsweise einem Besuchsdienst, bekommt oft sehr viel zurück.
Niederschwelligkeit ist auch das Schlüsselwort für Eve Bino, Initiantin und Co-Geschäftsleiterin des Vereins Silbernetz Schweiz.
Kleine gemeinsame Momente
Vor bald vier Jahren hat der Verein Silbernetz Schweiz mit dem Projekt «malreden» niederschwellige Gesprächsmöglichkeiten geschaffen. Das Angebot umfasst drei Elemente: ein kostenloses und anonymes Alltagstelefon (0800 890 890), feste Telefonpartnerschaften sowie eine Informationsvermittlung zu weiteren Unterstützungsangeboten. Das Projekt «malreden» bietet älteren Menschen eine niederschwellige Möglichkeit, soziale Kontakte zu pflegen und die Einsamkeit zu reduzieren. Mit dem Alltagstelefon wurde ein leicht zugängliches Gesprächsangebot geschaffen. «Das Angebot wird konstant steigend, mit wenigen Schwankungen, genutzt», sagt Bino und freut sich: «Kleine positive Momente schaffen, sich im Gespräch verbunden fühlen – das ist genau die Idee hinter malreden.» Jährlich finden rund 8000 vertrauliche Gespräche statt – das entspricht etwa 20 telefonischen Begegnungen pro Tag. «Das Alltagstelefon übertraf die ersten Erwartungen, zeigte eine klare momentane Wirkung gegen Einsamkeit und wurde von den Nutzer:innen besonders für die Flexibilität, Empathie und emotionale Unterstützung geschätzt», legt ein Evaluationsbericht der Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW für Soziale Arbeit und Gesundheit dar. Die meisten Nutzer:innen von «malreden» sind gemäss der FHNW-Evaluation weiblich, zwischen 65 und 84 Jahre alt, alleinstehend und leben in ihrem eigenen Haushalt. Seit Beginn wurden etwa 60 Gesprächstandems gebildet – ganz offenbar ist die Hemmschwelle höher, um eine verbindliche, langfristige Telefonbeziehung einzugehen.
Freiwillige schenken Gehör
Ohne engagierte Freiwillige wäre das Projekt «malreden» wohl nicht denkbar. Sie sind es, die am Alltagstelefon ein offenes Ohr schenken, die Gespräche führen, die Gesprächstandems begleiten und Menschen mit Einsamkeitsgefühlen ein wertvolles Gegenüber bieten. Doch Zuhören will gelernt sein – deshalb werden alle Freiwilligen geschult. Bino betont: «Die Schulung ist essenziell: Es geht um Gesprächsführung, um den sensiblen Umgang mit Einsamkeitsgefühlen und vor allem darum, Grenzen zu kennen. Wir sind kein Krisentelefon.» Die Vielfalt der Freiwilligen sei ein «bunter Strauss», erklärt die Co-Geschäftsleiterin. Viele Frauen und etwas weniger Männer sind über 60 und bringen selbst viel Lebenserfahrung mit – eine Erfahrung, die offenbar gewünscht und geschätzt wird. Doch es gibt auch jüngere Freiwillige, wie Studierende der Sozialwissenschaften oder engagierte Menschen aus anderen Bereichen. Die Freiwilligen werden begleitet – mit Supervision, Austauschmöglichkeiten und einem offenen Ohr für ihre eigenen Anliegen. Sie schenken Zeit, Empathie und Aufmerksamkeit – und erhalten im Gegenzug bereichernde Begegnungen und sinnstiftende Erfahrungen.
Der richtige Kanal
Ein zentrales Thema des Vereins «connect!» ist, einen besseren, niederschwelligen Zugang zu den vorhandenen Angeboten zu ermöglichen. Doch wie erfahren ältere Menschen, insbesondere jene, die unter Einsamkeitsgefühlen leiden, von diesen Möglichkeiten? «Die Nutzung verschiedener Kanäle ist entscheidend», betont Susanne Schaaf von «Einsamkeit im Alter – Wege aus der Einsamkeit». Eine Gemeinde hatte das Theaterangebot des ISGF auf ihren digitalen Kanälen beworben – die Resonanz blieb jedoch aus. Stattdessen verschickte sie einen Brief mit einem Flyer an alle älteren Menschen der Gemeinde. Innert weniger Tage gingen fast 100 Anmeldungen ein. «Unsere Website und die Social-Media-Kanäle sprechen unsere primäre Zielgruppe nicht direkt an. Deshalb setzen wir auf Multiplikatoren wie Fachstellen, Spitex, das SRK oder Pro Senectute, welche ‹malreden› weiterempfehlen», sagt Eve Bino. Zielgruppengerecht adressiert und dort kommuniziert, wo die potenziellen Nutzer:innen, Fachleute und engagierten Freiwilligen sind – das scheint der vielversprechendste Weg zu sein.
Darüber reden ist das Stichwort! Gemeinsam – vielleicht bei einem Waldspaziergang.