Nadine Schneider (links) und Kaba Rössler, Leitung Museum Henry Dunant, Bild: Andreas Butz

Gefragt ist aktu­el­les huma­ni­tä­res Enga­ge­ment statt Beto­nung vergan­ge­ner Leistungen

Nadine Schneider und Kaba Rössler leiten das Museum Henry Dunant in Heiden. Vor einem Jahr hat das Museum nach einem umfassenden Umbau wiedereröffnet. Sie sprechen über den Publikumserfolg, das Erbe von Henry Dunant und fragen zum Geburtstag der Schweiz, was die humanitäre Schweiz heute leistet?

Vor einem Jahr haben Sie das Museum nach umfas­sen­dem Umbau neu eröff­net.
Wie haben sich die Besu­cher­zah­len entwickelt?

Kaba Röss­ler: Das Inter­esse ist seit dem ersten Tag der Wieder­eröff­nung sehr gross. Die Besucher:innenzahlen haben sich nahezu verdop­pelt. Neben dem quan­ti­ta­ti­ven Erfolg freut uns aber insbe­son­dere, dass wir neue Besucher:innengruppen und ein hete­ro­ge­ne­res Publi­kum ansprechen. 

Nadine Schnei­der: Wir erhal­ten sowohl vom Bauer aus dem Nach­bar­dorf, der ETH-Profes­so­rin aus Zürich als auch von Menschen mit Hör- oder Sehbe­ein­träch­ti­gun­gen äusserst posi­tive Feed­backs. Gründe hier­für dürf­ten die Aktua­li­tät der Thema­tik sein, die inhalt­li­che Anbin­dung des Muse­ums an die Gegen­wart, das Ange­bot an Vertie­fungs­mög­lich­kei­ten und spezi­fi­sche Inklu­si­ons­mass­nah­men. Mit der moder­nen, zeit­ge­mäs­sen Kura­tion und Szen­o­gra­fie und dem neuen Vermitt­lungs­pro­gramm werden vermehrt Kinder und Jugend­li­che ange­spro­chen. Unser Publi­kum ist also auch jünger gewor­den – und mit der Mehr­spra­chig­keit auch internationaler.

Wir könn­ten aber aktu­ell auch mit wegwei­sen­den Initia­ti­ven bril­lie­ren, die Menschen­rechte stär­ken, statt uns auf die Geschichte zu berufen.

Kaba Röss­ler, Leitung Museum Henry Dunant

Wie ist das Inter­esse an Henry Dunant heute?

Nadine Schnei­der: Mitarbeiter:innen und Frei­wil­li­gen aus der Rotkreuz- und Rothalb­mond­be­we­gung ist Henry Dunant nach wie vor ein «Begriff». Grund­sätz­lich stel­len wir fest, dass Dunant ausser­halb der Schweiz bekann­ter ist als im Land, wo er gebo­ren wurde. Das mag daran liegen, dass Schwei­zer Persön­lich­kei­ten im Ausland oft mehr Wert­schät­zung entge­gen­ge­bracht wird als in ihrer Heimat, und wir Schweizer:innen uns schwer tun mit «Helden». Zudem war die Schweiz nie in der Situa­tion, in einem Krieg auf Rotkreuz­dienste ange­wie­sen zu sein, was Einfluss auf das Verges­sen Dunants haben könnte.
Kaba Röss­ler: Mit der Neukon­zi­pie­rung war es uns u. a. ein Anlie­gen, diesen wirkungs­mäch­ti­gen Schwei­zer, den Initi­an­ten der welt­weit gröss­ten huma­ni­tä­ren Orga­ni­sa­tion, wieder einer brei­te­ren Öffent­lich­keit ins Gedächt­nis zu rufen. Nicht primär wegen der Person Henry Dunant, sondern wegen den Werten, die wir mit dem Namen Dunant verbinden.

Bewaff­nete Konflikte sind auch in Europa wieder an der Tages­ord­nung und das Völker­recht wird mit Füssen getre­ten – die huma­ni­tä­ren Grund­werte stehen auf dem Spiel. Der rich­tige Augen­blick also, sich die huma­ni­tä­ren Errun­gen­schaf­ten aus dem 19. Jahr­hun­dert ins Gedächt­nis zu rufen und diese im Kontext der Gegen­wart zu diskutieren.

Der Claim des neuen Museum Henry Dunant lautet «Huma­ni­tät jeden Tag!». Blicken Sie mehr in die Vergan­gen­heit oder auf aktu­elle Entwicklungen?

Kaba Röss­ler: Wir blicken, entlang des Lebens­wegs Dunants in die Vergan­gen­heit, um die Geschichte, den Kern des huma­ni­tä­ren Völker­rechts zu verste­hen und für die Gegen­wart zu inter­pre­tie­ren und weiter­zu­den­ken. Inso­fern haben Vergan­gen­heit und Gegen­wart in unse­rem Museum den glei­chen Stellenwert.

Was kann die heutige Gesell­schaft vom Erbe Henry Dunants lernen?

Nadine Schnei­der: Mensch­lich­keit! Henry Dunant ist eine facet­ten­rei­che Persön­lich­keit. Sein Buch «Eine Erin­ne­rung an Solferiono/Un souve­nir de Solfé­rino» war ein Best­sel­ler seiner Zeit. Seine Initia­ti­ven für die Grün­dung des Roten Kreu­zes und für die Genfer Konven­tion, legten den Grund­stein für das huma­ni­täre Völker­recht. Das ist sein blei­ben­des Vermächt­nis. Aber seine Biogra­fie kennt auch Abgründe und Tiefen. Zum Beispiel sein kolo­nia­les Engag­ment in Alge­rien. Dunant ist ein gebro­che­ner Held, was ihn nahbar macht – auch nach einem tiefen Fall kann ein Mensch viel bewir­ken.
Und jeder einzelne Mensch zählt.

Museum Henry Dunant in Heiden, Bild: Peter Köhl

Die Schweiz feiert am 1. August Geburts­tag: Welche Rolle nimmt die huma­ni­täre Tradi­tion im Bild der Schweiz heute noch ein?

Kaba Röss­ler: In den 1960 er Jahren kam die Schweiz wegen ihrem Verhal­ten im 2. Welt­krieg unter Druck. Ein besse­res Bild liess sich dank Henry Dunant, dem Roten Kreuz und den Genfer Konven­tio­nen zeich­nen. Auch heute noch beru­fen wir uns gerne auf diese Leis­tun­gen und rücken das Bild der huma­ni­tä­ren Schweiz in den Fokus. Aber was leis­tet die Schweiz aktu­ell? Es gibt zum Beispiel Stim­men, die den Austritt der Schweiz aus der Euro­päi­schen Menschen­rechts­kon­ven­tion fordern, weil die Bundes­ver­fas­sung über das Völker­recht gestellt werden soll. Das kann als Angriff auf die Menschen­rechte verstan­den werden. Wir könn­ten aber aktu­ell auch mit wegwei­sen­den Initia­ti­ven bril­lie­ren, die Menschen­rechte stär­ken, statt uns auf die Geschichte zu berufen.

Wegwei­send und neu war sein Impe­ra­tiv «tutti fratellli». Dieser besagt, dass allen Menschen in Not unab­hän­gig der reli­giö­sen oder ethni­scher Zuge­hö­rig­keit, und unab­hän­gig ihrer Natio­na­li­tät oder ihres Geschlechts gehol­fen werden soll.

Nadine Schneider,Leitung Museum Henry Dunant

Was macht das Lebens­werk von Henry Dunant einzigartig?

Nadine Schnei­der: Wegwei­send und neu war sein Impe­ra­tiv «tutti fratellli». Dieser besagt, dass allen Menschen in Not unab­hän­gig der reli­giö­sen oder ethni­scher Zuge­hö­rig­keit, und unab­hän­gig ihrer Natio­na­li­tät oder ihres Geschlechts gehol­fen werden soll. Ebenso zentral war seine Forde­rung, das Sani­täts­per­so­nal zu neutra­li­sie­ren und dadurch für alle betei­lig­ten Kriegs­par­teien unan­greif­bar zu machen.
Später wurden diese Grund­sätze dahin gehend erwei­tert, dass auch Zivil­per­so­nen in bewaff­ne­ten Konflik­ten vor Gewalt und Ernied­ri­gung geschützt werden müssen. Das huma­ni­täre Völker­recht schreibt vor, dass Konflikt­par­teien zwischen mili­tä­ri­schen Zielen und Zivil­per­so­nen unter­schei­den und alle mögli­chen Mass­nah­men zum Schutz der Zivil­be­völ­ke­rung tref­fen müssen.

Das Museum will die Ausein­an­der­set­zung mit Menschen­rech­ten, mit dem Völker­recht, mit Frie­den und Demo­kra­tie fördern. Wie hat sich das Verständ­nis dieser Begriffe und deren Akzep­tanz in den vergan­ge­nen Jahren gewandelt?

Kaba Röss­ler: Alle 195 inter­na­tio­nal aner­kann­ten Staa­ten haben die Genfer Konven­tio­nen rati­fi­ziert, welche den Kern des huma­ni­tä­ren Völker­rechts bilden. Bisan­hin wurde das huma­ni­täre Völker­recht als eine univer­selle Rechts­ord­nung akzep­tiert. Heute werden diese für ein fried­li­ches Zusam­men­le­ben so wesent­li­chen Errun­gen­schaf­ten öffent­lich in Frage gestellt. Das gibt zu Denken. Und zu tun.


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