Vor einem Jahr haben Sie das Museum nach umfassendem Umbau neu eröffnet.
Wie haben sich die Besucherzahlen entwickelt?
Kaba Rössler: Das Interesse ist seit dem ersten Tag der Wiedereröffnung sehr gross. Die Besucher:innenzahlen haben sich nahezu verdoppelt. Neben dem quantitativen Erfolg freut uns aber insbesondere, dass wir neue Besucher:innengruppen und ein heterogeneres Publikum ansprechen.
Nadine Schneider: Wir erhalten sowohl vom Bauer aus dem Nachbardorf, der ETH-Professorin aus Zürich als auch von Menschen mit Hör- oder Sehbeeinträchtigungen äusserst positive Feedbacks. Gründe hierfür dürften die Aktualität der Thematik sein, die inhaltliche Anbindung des Museums an die Gegenwart, das Angebot an Vertiefungsmöglichkeiten und spezifische Inklusionsmassnahmen. Mit der modernen, zeitgemässen Kuration und Szenografie und dem neuen Vermittlungsprogramm werden vermehrt Kinder und Jugendliche angesprochen. Unser Publikum ist also auch jünger geworden – und mit der Mehrsprachigkeit auch internationaler.
Wir könnten aber aktuell auch mit wegweisenden Initiativen brillieren, die Menschenrechte stärken, statt uns auf die Geschichte zu berufen.
Kaba Rössler, Leitung Museum Henry Dunant
Wie ist das Interesse an Henry Dunant heute?
Nadine Schneider: Mitarbeiter:innen und Freiwilligen aus der Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung ist Henry Dunant nach wie vor ein «Begriff». Grundsätzlich stellen wir fest, dass Dunant ausserhalb der Schweiz bekannter ist als im Land, wo er geboren wurde. Das mag daran liegen, dass Schweizer Persönlichkeiten im Ausland oft mehr Wertschätzung entgegengebracht wird als in ihrer Heimat, und wir Schweizer:innen uns schwer tun mit «Helden». Zudem war die Schweiz nie in der Situation, in einem Krieg auf Rotkreuzdienste angewiesen zu sein, was Einfluss auf das Vergessen Dunants haben könnte.
Kaba Rössler: Mit der Neukonzipierung war es uns u. a. ein Anliegen, diesen wirkungsmächtigen Schweizer, den Initianten der weltweit grössten humanitären Organisation, wieder einer breiteren Öffentlichkeit ins Gedächtnis zu rufen. Nicht primär wegen der Person Henry Dunant, sondern wegen den Werten, die wir mit dem Namen Dunant verbinden.
Bewaffnete Konflikte sind auch in Europa wieder an der Tagesordnung und das Völkerrecht wird mit Füssen getreten – die humanitären Grundwerte stehen auf dem Spiel. Der richtige Augenblick also, sich die humanitären Errungenschaften aus dem 19. Jahrhundert ins Gedächtnis zu rufen und diese im Kontext der Gegenwart zu diskutieren.
Der Claim des neuen Museum Henry Dunant lautet «Humanität jeden Tag!». Blicken Sie mehr in die Vergangenheit oder auf aktuelle Entwicklungen?
Kaba Rössler: Wir blicken, entlang des Lebenswegs Dunants in die Vergangenheit, um die Geschichte, den Kern des humanitären Völkerrechts zu verstehen und für die Gegenwart zu interpretieren und weiterzudenken. Insofern haben Vergangenheit und Gegenwart in unserem Museum den gleichen Stellenwert.
Was kann die heutige Gesellschaft vom Erbe Henry Dunants lernen?
Nadine Schneider: Menschlichkeit! Henry Dunant ist eine facettenreiche Persönlichkeit. Sein Buch «Eine Erinnerung an Solferiono/Un souvenir de Solférino» war ein Bestseller seiner Zeit. Seine Initiativen für die Gründung des Roten Kreuzes und für die Genfer Konvention, legten den Grundstein für das humanitäre Völkerrecht. Das ist sein bleibendes Vermächtnis. Aber seine Biografie kennt auch Abgründe und Tiefen. Zum Beispiel sein koloniales Engagment in Algerien. Dunant ist ein gebrochener Held, was ihn nahbar macht – auch nach einem tiefen Fall kann ein Mensch viel bewirken.
Und jeder einzelne Mensch zählt.

Die Schweiz feiert am 1. August Geburtstag: Welche Rolle nimmt die humanitäre Tradition im Bild der Schweiz heute noch ein?
Kaba Rössler: In den 1960 er Jahren kam die Schweiz wegen ihrem Verhalten im 2. Weltkrieg unter Druck. Ein besseres Bild liess sich dank Henry Dunant, dem Roten Kreuz und den Genfer Konventionen zeichnen. Auch heute noch berufen wir uns gerne auf diese Leistungen und rücken das Bild der humanitären Schweiz in den Fokus. Aber was leistet die Schweiz aktuell? Es gibt zum Beispiel Stimmen, die den Austritt der Schweiz aus der Europäischen Menschenrechtskonvention fordern, weil die Bundesverfassung über das Völkerrecht gestellt werden soll. Das kann als Angriff auf die Menschenrechte verstanden werden. Wir könnten aber aktuell auch mit wegweisenden Initiativen brillieren, die Menschenrechte stärken, statt uns auf die Geschichte zu berufen.
Wegweisend und neu war sein Imperativ «tutti fratellli». Dieser besagt, dass allen Menschen in Not unabhängig der religiösen oder ethnischer Zugehörigkeit, und unabhängig ihrer Nationalität oder ihres Geschlechts geholfen werden soll.
Nadine Schneider,Leitung Museum Henry Dunant
Was macht das Lebenswerk von Henry Dunant einzigartig?
Nadine Schneider: Wegweisend und neu war sein Imperativ «tutti fratellli». Dieser besagt, dass allen Menschen in Not unabhängig der religiösen oder ethnischer Zugehörigkeit, und unabhängig ihrer Nationalität oder ihres Geschlechts geholfen werden soll. Ebenso zentral war seine Forderung, das Sanitätspersonal zu neutralisieren und dadurch für alle beteiligten Kriegsparteien unangreifbar zu machen.
Später wurden diese Grundsätze dahin gehend erweitert, dass auch Zivilpersonen in bewaffneten Konflikten vor Gewalt und Erniedrigung geschützt werden müssen. Das humanitäre Völkerrecht schreibt vor, dass Konfliktparteien zwischen militärischen Zielen und Zivilpersonen unterscheiden und alle möglichen Massnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung treffen müssen.
Das Museum will die Auseinandersetzung mit Menschenrechten, mit dem Völkerrecht, mit Frieden und Demokratie fördern. Wie hat sich das Verständnis dieser Begriffe und deren Akzeptanz in den vergangenen Jahren gewandelt?
Kaba Rössler: Alle 195 international anerkannten Staaten haben die Genfer Konventionen ratifiziert, welche den Kern des humanitären Völkerrechts bilden. Bisanhin wurde das humanitäre Völkerrecht als eine universelle Rechtsordnung akzeptiert. Heute werden diese für ein friedliches Zusammenleben so wesentlichen Errungenschaften öffentlich in Frage gestellt. Das gibt zu Denken. Und zu tun.


