Menschen in schlimmen Situation zu helfen erachtet er als wichtigsten Antrieb: Der UN Hochkommissar für Flüchtlinge Filippo Grandi hat sein ganzes Leben dem Einsatz für Flüchtlinge gewidmet.
The Philanthropist: Sie arbeiten seit über 30 Jahren im Flüchtlingswesen …
Filippo Grandi: … Ja, es sind sogar schon fast 40 …
… erlebten Sie in all diesen Jahren nie eine Situation, in der Sie sich sagten, ich kann nicht mehr?
Es ist gibt immer wieder schwierige Momente. Eigentlich jeden Tag (lacht). Aber dann gehe ich zu Bett. Ich schlafe und am Morgen starte ich von Neuem.
Und dann wissen Sie wieder: Es ist genau der richtige Job?
Ja. Und es ist auch hilfreich, manchmal verärgert zu sein. Natürlich versuche ich es zu verbergen.
Die steigende Zahl an Flüchtlingen muss Sie stark beschäftigen?
Das Phänomen der Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, ist in den vergangenen Jahren stark gewachsen. 82 Millionen Menschen sind heute entweder aus ihrer Heimat vertrieben oder innerhalb des eigenen Landes auf der Flucht. Diese Zahl ist in den vergangenen zehn Jahren kontinuierlich gestiegen. Es ist leider eine andauernde Krise.
Sie sprachen schon davon, dass es keine Frage sei ob, sondern nur wann 100 Millionen Menschen weltweit vertrieben sein werden …
Die Zahl von 100 Millionen Vertriebenen bedrückt. Aber in Tat und Wahrheit sind schon 82 Millionen sehr schlimm, vor allem wenn Sie berücksichtigen, dass es vor wenigen Jahren erst die Hälfte war.
Die Zahl wird also weiter steigen?
Nur wenn wir die aktuellen Kriege stoppen. Doch dies würde eine Zusammenarbeit von vielen mächtigen Nationen verlangen. Dies ist aktuell nicht der Fall. Und wenn wir die riesigen Herausforderungen wie Klimawandel und Armut nicht geeint angehen – und aktuell sind die Staaten nicht geeint – sehe ich nicht, wie die Zahlen sinken sollten. Es gibt zurzeit keinen Konflikt, der komplett gelöst wurde.
Was war früher anders?
In den 90ern hatten wir viele Krisen wie Jugoslawien oder Ruanda. Wir verhandelten um Lösungen. Schliesslich konnten viele Menschen zurückkehren. Solche Lösungen sehen wir heute nicht.
Was ist der Unterschied?
Nach dem Zweiten Weltkrieg haben viele Kriege lokal stattgefunden. Die grossen Kräfte USA und Sowjetunion kämpften in Stellvertreterkriegen. Als die Berliner Mauer fiel, veränderte sich die Welt und es folgte eine Epoche mit Möglichkeiten für Lösungen vieler Art. Es war ein grosses Durcheinander mit vielen Krisen. Aber es wurden immer wieder Lösungen gefunden.
Was hat sich seither geändert?
Drei Ereignisse beeinflussten die geopolitische Lage. 9/11 löste ein Klima der Angst aus. Vor etwa zehn Jahren folgte die Finanzkrise. Und aus einer Welt mit zwei Mächten erwuchs ein multipolares System, in welchem auch mittelgrosse und kleine Staaten zu großem Einfluss gelangten. Heute sind wir in einer Übergangsphase zu einem Gleichgewicht der Kräfte. Aber wir sind noch nicht angekommen. Wir sehen viele komplizierte Kriege und komplexe Situationen. Und dazu ist mit dem Informationszeitalter noch ein neues Konfliktfeld hinzugekommen. Skrupellose Politiker schüren mittels digitalen Kommunikationsmittel die Angst. Sie behaupten, dass Menschen kommen würden, welche die Jobs wegnehmen, die Werte bedrohten und die Sicherheit gefährdeten. Dieses Narrativ ist sehr populär und geläufig. Damit wurden Wahlen gewonnen. Die Katastrophe ist, dass es den Gedanken der Solidarität unfassbar geschwächt hat.
Hat das direkte Folgen für Ihre Arbeit?
Die UNHCR ist die Organisation von UN-Mitgliedsstaaten. Wir sind keine NGO. Wir brauchen die Solidarität der Bürgerinnen und Bürger, die die Menschenrechte hochhalten und ihre Regierungen drängen, den Menschen auf der Flucht zu helfen. Es gibt viele Regierungen die uns unterstützen, und es gibt andere.
Alleine Europa benötigte sehr lange für Lösungen ...
Europa ist ein sehr spezieller Fall, weil sich die Flüchtlingsthematik mit den Herausforderungen der europäischen Union überschneidet. Die EU-Staaten müssen zusammenarbeiten. Es werden immer wieder Menschen nach Europa kommen. Seit Jahrhunderten flüchten Menschen nach Europa. Das wird so bleiben. Europa ist reich und somit sehr attraktiv. Und es herrscht Frieden. Das ist für Migrantinnen attraktiv. Aber Mauern können nicht die Antwort sein. Unabhängig von der moralischen Fragestellung: Das funktioniert nicht. Die Länder müssen zusammenstehen. Sie müssen Konflikte lösen. Es ist schwierig, aber nicht unmöglich. Es sind 27 wohlhabende und gut organisierte Länder plus Norwegen, UK und die Schweiz.
Photos: UNHCR/Diego Ibarra Sánchez
«Menschen in schlimmen Situationen zu helfen ist der wichtigste Antrieb.»
Filippo Grandi
Wie kann der Schweizer Philanthropie Sektor unterstützen?
Ressourcen zur Verfügung stellen, Spenden, Philanthropie im traditionellen Sinn. Was wir aber auch brauchen sind echte Partnerschaften, in denen wir zusammen an einem Problem arbeiten. Wahrscheinlich ist Technologie heute einer der spannendsten Bereiche für Kooperationen. Hier sehe ich viele Anknüpfungspunkte. Aber auch nachhaltige Energie und der Klimawandel stehen im Fokus.
Weshalb?
Der Zusammenhang zwischen Klimawandel und Migrationsbewegungen ist kompliziert. Auch wir müssen dazu beitragen, den Klimawandel zu stoppen. Wir müssen unseren eigenen CO2-Abdruck verkleinern. Der beste Partner hier ist klar der private Sektor.
Sie zielen auf Unternehmen?
Nicht nur. Mit privatem Sektor meine ich Unternehmen und Einzelpersonen. Wir haben bis heute drei Millionen Spenderinnen und Spender erreicht. Für uns ist das viel. Wir arbeiten am häufigsten mit Staaten. Das ist manchmal frustrierend. Staaten können sehr bürokratisch oder von den eigenen Interessen getrieben sein – was in der Natur der Sache liegt. Deshalb bin ich immer wieder sehr glücklich, wenn wir eine Beziehung mit dem Philanthropie Sektor pflegen können. Stiftungen und Einzelpersonen verstehen, dass es ein Element haben soll, das nicht auf Eigeninteressen beruht, sondern auf ehrlicher Philanthropie. Das ist sehr erfrischend.
Die Flüchtlingssituation wird komplexer. Wird es ihre Arbeit auch, einfach im positiven Sinn?
Absolut. Ich liebe Komplexität. Komplexität ist zwar immer auch eine Herausforderung. Aber wer heute behauptet, es sei einfach, der ist entweder ein Populist oder liegt falsch. Ich möchte weder das eine noch das andere sein.
Covid 19 hat die Welt nicht einfacher gemacht. Die Verteilung der Impfdosen auf der Welt ist extrem ungleich.
Es ist desaströs. Uganda ist für mich ein gutes Beispiel. Uganda ist gegenüber Flüchtlingen sehr grosszügig. Das Land bietet 1,5 Millionen Vertriebenen aus dem Südsudan, Kongo und anderen Konfliktgebieten Zuflucht. Uganda gibt diesen Menschen Land, Zugang zum Arbeitsmarkt und zu weiteren Services. Ein armes Land, das grosszügig handelt. Ich sage nicht, dass in Uganda alles gut ist. Aber Sie haben nach der Impfung gefragt. Ich war im Frühling dort. Die Verantwortlichen vor Ort haben mir erklärt: Hätten sie genügend Impfdosen, wären sie inklusive Flüchtlinge fertig mit dem Impfprogramm. Sie integrieren auch die Flüchtlinge. Aber weil sie noch sehr wenig Impfstoff haben, bleiben bspw. die Schulen geschlossen. In Europa sind bereits rund 62 Prozent geimpft. In Afrika gibt es Länder, in denen der Anteil unter zehn Prozent liegt. Klar gibt es Länder wie die USA, die Impfdosen in Schwellenländer senden. Aber das reicht nicht. Wenn ich dann höre, dass all unsere Kühlschränke gefüllt sind mit Impfdosen und die Leute wollen diese nicht, stimmt mich das nachdenklich.
Sehen Sie eine Lösung?
Es gibt nur eine: Die reichen Länder müssen noch mehr Dosen den armen Ländern zur Verfügung stellen. Wenn die Pandemie überwunden ist, sollten wir die Ursachen für diese schlechte Verteilung analysieren.
Was macht das UNHCR?
Wir selber verteilen keine Impfungen. Aber wir haben von Anfang an darauf hingewiesen, Flüchtlinge in die Überlegungen einzubeziehen. Unter anderem haben wir mit Flüchtlingen zusammengearbeitet, um über Ansteckung aufzuklären und für Social Distancing zu werben. Wir haben unsere Ressourcen zur Verfügung gestellt und bspw. Desinfektionsmittel oder Masken verteilt. Dazu benötigten wir grosse finanzielle Mittel. Und wir wurden auch gehört. Doch unterdessen ist der philanthropische Drive etwas erlahmt. Wir haben Mühe zu vermitteln, dass wir immer noch grosse finanzielle Mittel brauchen. Heute ist die Katastrophe aber nicht mehr so sichtbar.
Haben wir uns vielleicht daran gewöhnt?
Ja, dabei bräuchten wir weiterhin viel Hilfe aus dem privaten Sektor, von der öffentlichen Hand und der Wirtschaft, insbesondere in den Bereichen Prävention, Hygiene und Logistik.
Covid 19 ist gewissermassen die Krise on top. Was sind die schwierigsten humanitären Situationen zurzeit?
Das ist schwer zu sagen. In diesem Sommer war Afghanistan zweifellos die größte Krise. Es ist eine verheerende und tragische Situation. Als die Taliban die Regierung übernahmen, befürchteten viele Menschen das Schlimmste. Die Welt konzentrierte sich auf die Evakuierungen, aber es zeichnete sich eine große Krise in dem Land ab, in dem wir allein seit Anfang des Jahres über 650‘000 Binnenvertriebene zu verzeichnen hatten. Die erwartete Massenbewegung oder der Exodus über die Grenzen hinweg fand nicht statt. Wenn sich das Land jedoch wirtschaftlich nicht erholt und die Sicherheit und Stabilität weiterhin prekär bleiben, könnte es durchaus zu einer größeren Flüchtlingskrise kommen, und die Situation wird schlimmer sein als 2015/16. Und wir sollten nicht vergessen, dass die afghanische Bevölkerung auch ohne neue Vertreibungen Hilfe braucht.
Wie ist die Situation in Afghanistan?
Es gibt heute Millionen von Flüchtlingen in den umliegenden Länder Pakistan, Iran, der Türkei und weiteren Ländern. Auch innerhalb Afghanistans ist die Zahl an Vertriebenen enorm. Zu 3,5 Millionen Heimatlosen, die innerhalb der letzten vier Jahrzehnte ihr Zuhause verlassen mussten, kamen in den letzten Monaten weitere Hunderttausende hinzu. Wenn wir nicht wollen, dass diese zu Flüchtlingen werden, müssen wir ihnen helfen. Und zwar jetzt. Damit sie wieder nach Hause zurückkehren können. Aktuell herrscht eine fragile Stabilität. Jene, die zurzeit am meisten auf Hilfe angewiesen sind, sind jene im Land oder in den Flüchtlingslagern nahe der Grenze. Eine schwierige Situation, um der Öffentlichkeit zu vermitteln. Im Sommer hatten wir riesige Aufmerksamkeit und dadurch entsprechend viele Zuwendungen erhalten: In den ersten drei Woche spendeten uns Private und Unternehmen 20 Millionen Dollar.
Doch die Aufmerksamkeit hat abgenommen?
Genau. Der schwierige Teil kommt jetzt. Die Medienberichterstattung wird weniger und der Winter steht vor der Türe. Wir müssen diesen Menschen Schutz geben mit Wolldecken, mit einfachen Dingen.
Werden Sie eine Lösung finden?
Bei solch immensen humanitären Katastrophen hilft die Welt. Selbst die Taliban wollen den Flüchtlingen helfen. Da gibt es keinen Zweifel. Ich war vor Ort und habe mit ihnen gesprochen. Wir fokussieren uns darauf, wie wir den Vertriebenen durch den Winter helfen können. Häuser, Schutz, Zelte etc. Die UN Hilfswerke haben ein sehr gutes und funktionierendes Netzwerk in Afghanistan. Wir können helfen. Aber wir brauchen die Ressourcen dazu.
Kinder sind speziell exponiert. Welche Hoffnung können Sie den Kindern geben, wenn sie in einer solchen Flüchtlingssituation geboren wurden?
Bildung für Flüchtlinge ist wichtig. Das Thema hat an Bedeutung gewonnen. Auslöser war die Syrienkrise. Als die syrischen Flüchtlinge zu den Gründen für ihre Flucht befragt wurden, nannten sie die schwierigen Umstände, Nahrungsmittelmangel und immer auch, dass die Kinder nicht in die Schule konnten. Das hat die Menschen in den reichen Ländern realisieren lassen, dass die Bildung der Flüchtlinge eine absolute Notwendigkeit ist. Und hier ist wirklich etwas passiert. Vor rund sechs Jahren hatten nur gerade 50 Prozent der Flüchtlingskinder die Primarschule besucht. Der Welt-Durchschnitt der Nicht-Flüchtlingskinder liegt nahe bei 90 Prozent. Mit gezielten Programmen konnten wir den Zugang zu Bildung für Flüchtlingskinder auf 60 bis 70 Prozent erhöhen.
Was gibt Ihnen die Zuversicht, dass das, was Sie tun, auch einen Unterschied macht und hilft?
Ich bin Optimist – denn wenn ich Menschen treffe, die zur Flucht gezwungen sind, sehe ich bei vielen ihren unbeugsamen Geist. Sie haben das Schlimmste von der Menschheit erlebt, aber wenn jemand Mitgefühl zeigt, an andere Menschen glaubt, sich für andere und mit anderen einsetzt – diese Solidarität kann den Unterschied ausmachen.
Bei all diese negativen und traurigen Dingen, die Sie nennen …
Bspw. der «Global compact for refugees». Dieser Pakt enthält Ziele zum Klimawandel, zur Bildung und weiteren wichtigen Themen. Eigentlich handelt es sich um eine Art Toolbox mit Ideen. Ein Angebot an alle, die helfen können und wollen. Die beteiligten UN Staaten haben sich über den Inhalt geeinigt. Aber das Angebot richtet sich nicht nur an Staaten. Viel wichtiger ist das Instrument für die Zivilgesellschaft, den Wirtschafts‑, Kultur- und Sportsektor. Dass alle Staaten einverstanden waren mit dem Pakt, ist ermutigend und gibt Hoffnung. Menschen in schlimmen Situationen zu helfen ist der wichtigste Antrieb. Daran glaube ich. Das habe ich mein ganzes Leben getan.