In Europa ist Aufrüsten das Thema: Wie steht es um die Friedensbewegung?
Die Friedensbewegung steht heute an einem kritischen Wendepunkt. Politische Entscheidungsträger:innen in Europa setzen im grossen Umfang auf militärische Sicherheit und prägen die öffentlichen Narrative dahingehend, dass für die Bevölkerung jegliche Alternative kaum vorstellbar erscheint. Gerade deshalb sind die zivilgesellschaftlichen Stimmen, die langfristige und nachhaltige Friedensstrategien fordern, unabdingbar. Diese werden jedoch oft als naiv und unrealistisch verrufen und zurückgedrängt oder sogar zum Verstummen gebracht. Unsere Partnerinnen weltweit machen jedoch deutlich: Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg. Er entsteht dort, wo soziale Gerechtigkeit, politische Teilhabe und wirtschaftliche Sicherheit gewährleistet sind. Die feministische Friedensbewegung muss wachsen, weil sie eine alternative Vision bietet – jenseits von Aufrüstung und Abschreckung, hin zu geschlechtergerechtem, inklusivem und somit nachhaltigem Frieden.
Die Geschichte hat gezeigt, dass Waffen zwar teilweise Kriege beenden können, aber keinen gerechten und nachhaltigen Frieden schaffen.
Deborah Schibler, Geschäftsleitung FriedensFrauen Weltweit
Ist Frieden nur erreichbar als Gleichgewicht der Abschreckung?
Abschreckung kann vielleicht kurzfristig eine gewisse Machtbalance schaffen, wenn sie funktioniert. Aber mehr Waffen bedeutet immer auch eine Militarisierung der Gesellschaft und somit im Endeffekt mehr Gewalt, mehr Leiden und grössere Unsicherheit. Die Geschichte hat gezeigt, dass Waffen zwar teilweise Kriege beenden können, aber keinen gerechten und nachhaltigen Frieden schaffen. So lange Macht ungleich verteilt ist – zwischen Staaten, innerhalb von Gesellschaften oder entlang von Geschlechterlinien – bleibt Frieden fragil. Unsere Arbeit zeigt: Friedensprozesse sind dann langfristig tragfähig, wenn sie inklusiv sind, wenn sie auf Dialog, Gerechtigkeit und Vertrauen basieren – nicht auf militärischer Überlegenheit. Eine generalisierte Aufrüstung und deren undifferenzierte Befürwortung ohne Investitionen in tatsächliche, inklusive Friedensarbeit bleiben nicht nur effektlos , sondern haben langfristig schwerwiegende negative Folgen.
Wie wirken sich die aktuellen Konflikte auf Ihre Arbeit aus?
Es ist dramatisch zu sehen, wie stark, schnell und unaufhaltbar sich die globale Konfliktlandschaft verändert. Das IKRK bestätigte 2024 120 bewaffnete Konflikte, dreimal so viele wie um die Jahrhundertwende. Das dadurch verursachte Leiden verstärkt sich täglich und ist unerträglich.
Die bewaffneten Konflikte – in der Ukraine, im Sudan, in Gaza oder in Kolumbien – erschweren unsere Arbeit und machen sie gleichzeitig umso dringlicher. Durch unser globales Netzwerk «Feminists Connecting for Peace» stehen wir weltweit in engem Austausch mit Frauen, die trotz Gewalt, Vertreibung und Repression weiter für Frieden und Gerechtigkeit einstehen. Die Risiken für Aktivistinnen nehmen zu, ebenso die Einschränkungen von zivilgesellschaftlichen Räumen. Gleichzeitig zeigt sich, wie unverzichtbar feministische Netzwerke sind, um Solidarität, Schutz und Sichtbarkeit zu ermöglichen.
Klar ist auch, dass die Erhöhung der Militärausgaben zulasten der Entwicklungszusammenarbeit den Druck auf die Friedensarbeit weiter verschärft hat.
Deborah Schibler
Klar ist auch, dass die Erhöhung der Militärausgaben zulasten der Entwicklungszusammenarbeit den Druck auf die Friedensarbeit weiter verschärft hat. Dies wirkt sich auch negativ auf die feministische Friedensarbeit aus, die bereits zuvor von chronischer und struktureller Unterfinanzierung betroffen war. Auch wir sind davon betroffen.
Welche Rollen können NGOs in der Friedensarbeit einnehmen?
NGOs nehmen vermehrt die Rollen als Brückenbauerinnen ein – zwischen lokalen Initiativen und internationalen Institutionen, zwischen Betroffenen und Entscheidungsträger:innen. Vor kurzem sagte mir eine staatliche Expertin: «Ihr von der Zivilgesellschaft seit den Entwicklungen 20 Jahre voraus.» Dies ist möglich, weil wir an einer Zukunft arbeiten, die sich viele andere noch gar nicht vorstellen können.
Wir dokumentieren, vermitteln, schulen, stärken Allianzen und fordern Rechenschaft ein. Als feministische Friedensorganisation bringen wir Perspektiven in Friedensprozesse ein, die sonst ignoriert werden: die Erfahrungen, Ideen und Forderungen von Frauen, die bereit dazu sind, die Bedingungen für Frieden zu schaffen, grundlegende Gespräche und Dialoge anzuregen und sich langfristig zu engagieren.
Was gleich geblieben ist: Der Einsatz für Frieden braucht Mut, Ausdauer und eine klare politische Haltung.
Deborah Schibler
Wer sich an die Proteste gegen den Vietnamkrieg erinnert oder an die Friedensmärsche vor 40 Jahren muss sich fragen: Was funktioniert heute anders?
Früher war die Friedensbewegung stark durch Massenmobilisierung geprägt. Heute hat sich das Engagement pluralisiert – es ist lokal verankert, global vernetzt und digital sichtbar. Vieles passiert in kleinen, kontinuierlichen Initiativen, getragen von Frauen und lokalen Gemeinschaften. Was gleich geblieben ist: Der Einsatz für Frieden braucht Mut, Ausdauer und eine klare politische Haltung. Was sich verändert hat: Die feministische Perspektive hat sich – zum Glück – verstärkt. Sie stellt die strukturellen Ursachen von Gewalt ins Zentrum – und damit auch die Machtverhältnisse, die sie reproduzieren. Und sie fordert die Auseinandersetzung mit diesen Themen, um die Konflikte grundlegend anzugehen und echte und effektive Lösungen zu schaffen.
Die Geschichte von Friedensfrauen begann vor 20 Jahren. Die Bewegung ist aus der Initiative «1000 Frauen für den Friedensnobelpreis 2005» entstanden. Wo stehen wir heute?
Die Initiative von 2005 war ein Meilenstein für die Sichtbarkeit der Friedensarbeit von Frauen und ist auch heute noch als solche anerkannt. Sie hat mit Sicherheit dazu beigetragen, dass gewisse Debatten anders geführt werden und der Friedensnobelpreis seither an 7 Frauen (von insgesamt 17) verliehen wurde. Die Initiative hatte vielen Frauen damals zusätzliche Kraft und Bestimmtheit, und teilweise auch Schutz, verliehen. Doch die Arbeit ist leider noch lange nicht getan.
Unsere Arbeit beruht weiterhin auf unserer DNA als internationales Netzwerk mit Partnerinnen in über 20 Ländern und langfristigen friedensfördernden Programmen in fünf Ländern. Aus einer bahnbrechenden Initiative ist eine nachhaltige Organisation entstanden, die konkrete Friedensarbeit leistet: Wir stärken die Teilhabe von Frauen in Friedensprozessen, bauen Allianzen, begleiten Versöhnungsarbeit, schaffen politische Räume und bringen feministische Perspektiven in unterschiedliche Gremien ein. Die Vision ist dieselbe geblieben – und unsere Strukturen und Wirkungsweise sind professionell, strategisch und politisch verankert.
Ich möchte mich hier jedoch davon distanzieren, dass die Anzahl Frauen an einem Tisch oder auf einem Foto allein den Ausschlag für Frieden gibt.
Deborah Schibler
Wer die Berichterstattung über die aktuellen Konflikte verfolgt, stellt fest, dass in diesen praktisch nur Männer an den entscheidenden Positionen sind. Würden diversere Führungsgremien Konflikte anders lösen?
Absolut. Ich möchte mich hier jedoch davon distanzieren, dass die Anzahl Frauen an einem Tisch oder auf einem Foto allein den Ausschlag für Frieden gibt. Frauen sind nicht biologisch friedlichere Menschen. Ihre Diversität, die sich in ihren Netzwerken zeigt, und ihre Bereitschaft, schwierige, grundsätzliche Themen anzugehen und strukturelle Änderungen zu fordern, sind jedoch relevant, um einen funktionierenden Frieden zu schaffen. Studien und Erfahrungen zeigen klar: Wenn Frauen mitentscheiden, werden Friedensabkommen eher unterzeichnet, halten länger und berücksichtigen breitere Bedürfnisse der Gesellschaft. Diversere Führung bedeutet auch, andere Fragen zu stellen: Wer trägt die Kosten des Krieges? Was bedeutet Sicherheit für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen? Wenn wir wirklich Frieden wollen, müssen wir Macht teilen – auch und gerade in politischen und militärischen Verhandlungsräumen.