Zusammenarbeit unterschiedlichster Art und auf verschiedenen Ebenen zeichnet die Schweizer Stiftung Wunderland aus. Den Nährboden für das Ökosystem der Stiftung hat der im Juli 2019 verstorbene Filmemacher Res Balzli gelegt. Res und seine Schwester Brigitte Balzli sind die Kinder des Berner Mundart-Dichters Ernst Balzli und der Schriftstellerin Alice Balzli-Vischer.
Von ihrer Mutter haben sie ein ansehnliches Vermögen geerbt. «Brigitte und Res sind beide kinderlos, sie haben eine enorm grosse soziale und kulturelle Ader», sagt Uwe Zahn, ehemaliger Geschäftsleiter der Stiftung, Präsident ad interim seit 2020 und Weggefährte der beiden. Brigitte Balzli führte 1996–2013 zusammen mit zwei Partnerinnen das Hotel Restaurant Villa Lindenegg im Herzen von Biel. Sie ist bis heute Stiftungsrätin der Stiftung Wunderland. Res Balzli war Sozialarbeiter, Gastronom und Kulturvermittler. Er machte sich einen Namen als Filmproduzent und Mitbegründer verschiedener Genossenschaften.
Eine Stiftung entsteht
Res und Brigitte Balzli waren 1982 zwei von sieben jungen Berner:innen, welche die Genossenschaftsbeiz Kreuz in Nidau gründeten. Bis heute gibt es im historischen Saal Anlässe. Als es 2003 der Nidauer Stadtrat ablehnte, die Genossenschaft mit einem zinslosen Darlehen für eine dringend nötige Renovation des Saals zu unterstützen, drohte der Kulturoase der Untergang. Uwe Zahn, damals für den Kulturverein tätig, erzählt: «Mir war schnell klar, eine Million für eine selbstverwaltete Genossenschaft zu finden, ist ein Ding der Unmöglichkeit.» Dann kam die Idee der Stiftung auf. Sympathisant:innen und einige Kreuz-Gründer:innen schossen Geld ein und die Genossenschaft steuerte ihre Liegenschaft bei. So stand diese weiterhin für die bisherige Nutzung zur Verfügung.
Das Modell
Seither sind weitere Liegenschaften mit unterschiedlichsten Projekten hinzugekommen. Wunderland muss keinen Gewinn erwirtschaften, den Boden entsprechend nicht gewinnbringend verkaufen und kann so die Hand schützend über die Projekte halten. Die Stiftung ist für die Liegenschaften besorgt und sie garantiert gleichzeitig, dass die Leute in den Projekten nicht rausfliegen. Einnahmen sind Mieten, Schenkungen und Spenden.
Den Geist an die nächste Generation weitergeben
Die Stiftung Wunderland zieht ganz bewusst jüngere Stiftungsrät:innen nach. Besteht ein Interesse, mitzutun, nimmt die Person während eines Jahres an den Stiftungsratssitzungen teil. Dies, um herauszufinden, ob man zusammenpasst. Das Modell hat Uwe Zahn eingebracht. Er sagt: «Sie erhalten in dieser Zeit vollen Einblick und die Vertraulichkeit muss natürlich gewährleistet sein. So merken wir, ob die Chemie stimmt.» Erst dann folgt der Eintrag ins Handelsregister. «Faszinierend ist, dass man nicht stur nach einer klassischen Zusammensetzung strebt», betont Valentin Ismail, jüngstes Stiftungsratsmitglied, «das Soziale und Kulturelle ist ebenso wichtig wie die Kompetenzen.»
Partnerschaftliche Zusammenarbeit
Die Zusammenarbeit im Stiftungsrat ist breit und geschieht auf unterschiedlichen Ebenen. Die Liegenschaften sind in der Regel einzelnen Stiftungsrät:innen zugewiesen. Sie können gemeinsam mit dem Geschäftsführer Entscheide fällen, die dann genau dokumentiert werden. Finanziell steht die Stiftung sehr gut da. Vieles ist eigenfinanziert. Einzig Hypotheken von rund 500’000 Franken stehen auf der Schuldenseite. Entsprechend offen ist die Stiftung, in weitere Projekte zu investieren, auch gemeinsam mit Partner:innen. Allerdings darf der Quadratmeterpreis 100 Franken im Jahr nicht übersteigen, darüber hinaus wird es schwierig. Valentin Ismail betont das partnerschaftliche Mietverhältnis: «Unsere Perspektive ist langfristig, wir denken und gestalten an den Standorten mit. Wir bieten Hand, wo wir können, stellen unser Netzwerk zur Verfügung, schreiben andere Stiftungen an und machen einen Teil der Öffentlichkeitsarbeit.»
La Coutellerie in Fribourg: Ort der Begegung.
Foto: Stiftung Wunderland
Gastronomie selbstverwaltet
«La Coutellerie» ist radikal selbstverwaltet und vielleicht das typischste Wunderland-Projekt. Uwe Zahn schmunzelt: «La Coutellerie ist ein Spiegelbild von Res. Er hat es als Liebhaberobjekt erworben.» Das kollektiv geführte Restaurant liegt in Fribourg sehr zentral direkt hinter dem Rathaus, am Rande des Rotlichtviertels. «Ursprünglich wollte Res dort wohnen und eine Bar als Begegnungsort für ältere Leute betreiben», erzählt der Stiftungsrat. «Während der Renovationsphase ist er zufälligerweise auf eine Gruppe junger Menschen gestossen, welche den Raum zuerst als Übergangslösung nutzten.» Seither funktioniert La Coutellerie als eine Art Volksküche. Wechselnde Teams junger Menschen engagieren sich in unterschiedlichster Art und Weise. «Es ist ein funktionierender Versuchsraum, ein Ort, der sich der üblichen Marktlogik entzieht und unterschiedlichste Dinge ausprobiert», erklärt Valentin Ismail, «ein Freiraum, in dem etwas entstehen kann. Alle, die wollen, können sich einbringen, Verantwortung übernehmen, erste Schritte machen und etwas ausprobieren.» Das sei aus vielen verschiedenen Gründen sehr richtig und wichtig, betont der Stiftungsrat. Der Buchwert des geschenkten Gebäudes ist gering. Die Stiftung weiss, was reinkommen muss, und sie kommuniziert diese Zahl gegenüber dem Kollektiv.
Gastronomie & Hotellerie
Das «Mercato» in Aarberg gibt es seit gut 20 Jahren. Junge Erwachsene können in der Pizzeria nach einer schwierigen Zeit wieder Tritt fassen. Zurzeit kämpft das Projekt mit schwindenden Beiträgen des Berner Sozialdienstes, auf welche es dringend angewiesen ist. Im Jahr 2006 übergab Res Balzli die Liegenschaft «Aux 4 Vents» in Granges-Paccot bei Fribourg der Stiftung Wunderland. Er hatte gemeinsam mit Catherine Portmann aus einem ehemaligen Patrizierhaus einen romantischen Rückzugsort, eine Ruhe- und Erholungsoase für Städter:innen geschaffen. Heute wird das Hotel traditionell geführt, von zwei Pächtern. Das ehemals privat genutzte Grundstück mit einmaligem Baumbestand wurde für die Bevölkerung zugänglich gemacht.
Ein Ort mit Würde
Das Sleep-In, eine Notschlafstelle in Biel, ein weiteres Projekt, ist während des ganzen Jahres geöffnet. Für sechs Franken gibt es ein Bett und Frühstück für Obdachlose und Menschen mit Sucht- und psychischen Problemen. Das Projekt hat einen Leistungsvertrag mit der Stadt Biel. Die zwei älteren Vorbesitzer wollten das Haus der Stadt Biel anbieten. Die Stadt zeigte kein Interesse, weshalb Wunderland übernahm und auch gleich die Gebäuderenovation organisierte. Dies aus Respekt zu den Leuten, die es nutzen. Einmal im Jahr, während einer Renovationswoche, werden alle anstehenden Arbeiten organisiert und wer kann, hilft mit. Manchmal auch die Nutzenden. So hat jede Liegenschaft der Stiftung Wunderland ihre eigene Geschichte. Der Name geht übrigens auf die Mutter der Geschwister Balzli zurück. Weil ein guter Teil des Geldes von Alice Balzli-Vischer kam, sagten sie, es sei wie bei «Alice aux pays des merveilles». Im gleichnamigen Märchen von Lewis Carroll fragt Alice den weissen Hasen: «Wie lange ist für immer?» Und er antwortet: «Manchmal nur für eine Sekunde.» In den Briefschaften steht bis heute: «Alice aux pays des mères veille.» So wacht Alice «für immer» über die Stiftung.