Junge Menschen suchen verstärkt Hilfe. «Wir haben bei unserer Beratungsstelle 147 seit Corona stetig mehr Anfragen», sagt Dino Demarchi, Verantwortlicher Öffentlichkeitsarbeit bei Pro Juventute. Vermehrt beschäftigen die Jugendlichen tiefgreifende Probleme: Im Durchschnitt verzeichnet die Beratungsstelle heute pro Tag 13 Anfragen junger Menschen mit Suizidgedanken. Das sind drei Mal so viele wie vor der Pandemie. Das wirkt sich auf die Kriseninterventionen aus. Sie haben ein Rekordhoch erreicht. Vor fünf Jahren brauchte es den Einsatz einer Blaulichtorganisation noch einmal pro Woche.
Heute müssen wir sie jeden zweiten Tag aufbieten», sagt Demarchi. «Wir beobachten die Entwicklung mit grosser Sorge. Und es zeigt, wie wichtig ein niederschwelliges Beratungsangebot ist.
Dino Demarchi, Pro Juventute
Auch die Gesundheitsumfrage des Bundesamts für Statistik verzeichnete 2022 generell einen Anstieg der Menschen mit psychischen Belastungen. Alessandra Weber, Geschäftsführerin von Kinderseele Schweiz, weist darauf hin, dass sich insbesondere bei den jungen Menschen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren eine Zunahme abzeichnet: 22 Prozent sind betroffen. Kinderseele Schweiz setzt sich für die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ein. Im Fokus stehen jene mit psychisch belasteten Eltern. Weber nennt verschiedene mögliche Ursachen, weshalb diese Gruppe besonders stark betroffen ist.
Die Einschränkungen während der Pandemie, der zunehmende Leistungsdruck in Schule und Ausbildung oder die allgemein angespannte Weltlage.
Alessandra Weber, Kinderseele Schweiz
Krise um Krise
Klimawandel und Ukrainekrieg, Niedergang der Demokratie und Wirtschaftskrieg – das Überlappen verschiedener Krisen prägen die Aktualität. Die Multi- oder Permakrise belastet Kinder und Jugendliche. Ausschlaggebend ist aber nicht die schiere Anzahl. Die emotionale Belastung nimmt zu, weil die Informationen über die verschiedenen Kanäle in den Alltag der jungen Menschen eindringen. Thomas Ihde, Stiftungsratspräsident Pro Mente Sana und Geschäftsführender Chefarzt Psychiatrie Spitäler Frutigen Meiringen Interlaken, erläutert: «Sie sehen in einem 30-Sekunden-TikTok-Video einen Jugendlichen, der erzählt, wie es sich in Gaza lebt.» Die Videos vermitteln die Gefühle der Erlebnisse. Die emotionale Distanz schwindet. Selbst journalistische Gefässe wie die Tagesschau würden die Gefühle der Menschen in den Fokus setzen statt eine auf Objektivität bedachte Berichterstattung bieten. «Das ist ein neues Phänomen», sagt Ihde. Das belastet. Man muss negative Gefühle zusammen aushalten. Das sei aber nicht unbedingt sinnvoll. Er sagt:
Die Regulationsleistung meiner Gefühle ist deswegen heute viel stärker gefordert.
Thomas Ihde, Pro Mente Sana, Psychiatrie Spitäler Frutigen Meiringen Interlaken
Wie es der Jugend geht, hat Pro Juventute im vergangenen Jahr in der erstmals publizierten Jugendstudie untersucht. Jugendliche verbringen gemäss Studie vier bis fünf Stunden pro Tag im Internet. «Deswegen ist es wichtig, dass sie früh einen gesunden Umgang mit den Medien lernen», sagt Dino Demarchi. «Sie müssen glaubwürdige Quellen von Fake News unterscheiden können. Sie müssen ihre Mediennutzung konstruktiv gestalten können.» Dabei zeigt die Auswertung durchaus positive Erfahrungen mit Sozialen Medien. «50 Prozent der Befragten nutzen die Kanäle, um Kontakte und Freundschaften zu pflegen, was positiv bewertet wird», sagt er. Aber doch 14 Prozent sagen, dass sie Soziale Medien als Stressfaktor empfinden. Die Studie zeigt auch, dass sich rund ein Viertel um die Lage der Welt und der Gesellschaft sorgt. Dabei decken die Ergebnisse Unterschiede auf. Weibliche Befragte machen sich eher Sorgen um Ungerechtigkeit, fehlende Toleranz und die Zukunft allgemein. Für junge Männer fallen die politische Entwicklung, die Spaltung der Gesellschaft sowie Desinformation und künstliche Intelligenz stärker ins Gewicht. Trotz dieser Belastung durch globale Entwicklungen: Die grössten Stressfaktoren sind der schulische Stress, der allgemeine Leistungsdruck sowie Geldsorgen und die eigene Zukunftsperspektive. Es sind die Faktoren, von welchen die Sicherheit der eigenen Position abhängt. Dino Demarchi sagt: «Es kann der Druck bestehen, sich durch Leistungen eine sichere Position erarbeiten zu müssen in einer Welt, die von Unsicherheit geprägt ist. Und das kann psychisch belasten.»
Familie im Zentrum
Für junge Menschen sollte gerade die Familie ein Gefühl von Sicherheit bieten. Für As’trame bleibt sie eine zentrale Einheit der Gesellschaft. Hier engagiert sich die Stiftung. Sie bietet in der Westschweiz Kindern, Jugendlichen und ihren Familien psychologische Hilfe, wenn diese einen Todesfall oder eine schwere Krankheit, eine psychische Krankheit eines oder einer Angehörigen oder die Trennung der Eltern zu bewältigen haben. Solche Schicksalsschläge treffen Kinder besonders. Auch As’trame stellt eine Zunahme der Fälle fest. Um betroffene Kinder und Jugendliche zu erreichen, setzt die Stiftung auf die Sensibilisierung von Fachpersonen, die bereits mit diesen Familien in Kontakt sind. «Für die Kinder hat man bisher wenig gemacht», sagt Anne de Montmollin, Geschäftsleiterin As’trame. «Sie laufen oft unter dem Radar. Deswegen sensibilisieren wir die Fachpersonen. Das ist ein Grund, dass wir mehr Fälle verzeichnen.» Aber auch die Folgen der Pandemie zeigen sich noch. Sie hat viele Familien geschwächt.
Für die Kinder hat man bisher wenig gemacht.
Anne de Montmollin, As’trame
Vorurteile abbauen
Eltern stehen bei Kinderseele Schweiz besonders im Fokus. «Psychisch erkrankte Eltern haben es besonders schwer», sagt Alessandra Weber. «Im öffentlichen Diskurs werden sie schnell an den Pranger gestellt. Ihre Erziehungsfähigkeit wird hinterfragt oder es wird sogar die Meinung vertreten, sie hätten keine Kinder haben sollen. Das ist absurd.» Viele Betroffene würden wegen dieser Vorurteile sehr lange damit warten, sich Hilfe zu holen. Erst wenn es gar nicht mehr geht, würden sie reagieren. «Das ist weder für sie noch für die Kinder gut», sagt Weber. Sie betont, dass psychisch erkrankte Menschen genauso gute und liebevolle Eltern sein können. Manchmal würden sie vorübergehend Unterstützung benötigen. Auch wenn diese Vorurteile noch vorhanden sind, stellt Weber in den letzten zehn Jahren eine Veränderung fest. Es besteht eine grössere Offenheit gegenüber dem Thema der psychischen Gesundheit. «Insbesondere seit der Pandemie wird das Thema auch in den Medien vermehrt angesprochen», sagt sie. Die Pandemie hat das Thema auf vielen Ebenen verstärkt und unterschiedliche Entwicklungen gefördert. Thomas Ihde sieht den Einfluss der Pandemie direkt auf die psychische Gesundheit der Betroffenen. Je nach Region und geltenden Massnahmen waren die Auswirkungen auf das Leben unterschiedlich. Heute werde die Pandemie mehr als Katalysator für bereits bestehende Tendenzen verstanden. «Es gab einen Sprung in der Entwicklung, die schon lange vorher angefangen hat», sagt Ihde.
Stärker stigmatisiert
Die vermehrte Auseinandersetzung mit dem Thema der psychischen Gesundheit während der Pandemie hat eine Entstigmatisierung des Themas eingeleitet. Diese muss allerdings differenziert betrachtet werden. Die Stigmatisierung hat sich verändert. Thomas Ihde stellt eine Reduktion der Stigmatisation bei psychischen Problemen anderer Menschen fest. Gerade bei jungen Menschen zeige sich eine wohlwollende Reaktion gegenüber einem Freund oder einer Freundin in einer psychischen Krise. Gleichzeitig sei die Toleranz gegenüber Menschen mit schweren psychischen Problemen oder Krankheiten gesunken. Erkrankungen wie Borderline oder Schizophrenie seien heute gar stärker stigmatisiert. Für eine junge Person mit einer solchen Diagnose sei es heute schwieriger als vor 30 Jahren, eine Arbeitsstelle zu finden. Unsere Gesellschaft wird zwar immer toleranter. Gleichzeitig prägt eine immer enger definierte Leistungserwartung das Leben. Das hat Folgen. «Die Kindheit wird zudem immer kürzer, die Adoleszenz länger», sagt Ihde. «Wir sehen heute Sechsjährige mit einem durch Termine wie Geigenunterricht strukturierten Tag, die auf Leistung ausgerichtet sind.» Hoch bleibe auch die Stigmatisierung sich selbst gegenüber. «Wenn wir schlecht schlafen oder das Denken immer negativer wird, haben wir immer noch Mühe, Hilfe zu beanspruchen.»
Intoleranz kann auch innerhalb der Familie zu einer Belastung für die Kinder werden. Wenn beispielsweise ein Elternteil durch eine psychische Belastung angeschlagen ist, dies aber zu Hause nicht angesprochen werden darf. Das belastet Kinder. «Sie sind loyal gegenüber ihren Eltern – egal, was sie zuhause erleben», sagt Alessandra Weber. «Darum kommt es auch selten vor, dass sich Kinder oder Jugendliche direkt an uns wenden. Die Kinder sind darauf angewiesen, dass Erwachsene in ihrem Umfeld hinschauen, erkennen, dass die Situation für sie belastend ist, und entsprechend Hilfe organisieren.» Bei Kinderseele Schweiz sind es in etwas mehr als der Hälfte der Fälle die Eltern selbst, die sich melden. Ansonsten sind es Fachpersonen wie Lehrer:innen, Schulsozialarbeiter:innen, Haus- und Kinderärzt:innen, Psychotherapeut:innen – und Menschen aus dem sozialen Umfeld betroffener Familien. Entscheidend ist stets, wann sich die Familie Hilfe holt. «Je länger damit gewartet wird, umso grösser ist das Risiko, dass die familiäre Belastung sich bereits negativ auf die Gesundheit der Kinder ausgewirkt hat», sagt Weber. «Am besten und schnellsten wirkt Hilfe, wenn die Eltern erkennen, dass die Situation potenziell gesundheitsschädigend für ihre Kinder ist, und sie offen sind, sich und den Kindern helfen zu lassen.» Ist dies nicht der Fall, brauchen die Kinder eine andere erwachsene Bezugsperson, die verlässlich für sie da ist. Mit dieser müssen sie über die Erkrankung der Mutter oder des Vaters offen reden können. «Kinder, welche die Situation verstehen und wissen, dass das Erlebte mit einer Krankheit zusammenhängt, können in der Regel besser damit umgehen», sagt Weber. Dies kann die Kinder davor schützen, selbst zu erkranken.
Veränderung statt Konflikt
Auch bei As’trame sind es die Eltern, die anrufen, von Fachpersonen geschickt oder aus eigener Initiative. Anne de Montmollin sagt: «In Schulen und Krippen sind wir heute gut bekannt. Die Eltern finden uns auch im Internet oder hören eine direkte Empfehlung einer anderen Familie.» Der Ansatz von As’trame stellt zum einen die Kinder in den Mittelpunkt. Sie sollen das Erlebte einordnen können. Spezifisch auf die Bedürfnisse ihres Alters abgestimmt, erhält das Kind die benötigte Betreuung. Dazu gehören Gruppen mit anderen Kindern. So erkennen sie, dass sie nicht alleine sind in ihrer Situation. Zum anderen arbeitet As’trame mit der Familie. Sie bietet Unterstützung für die Eltern. Probleme sollen gemeinsam in der Familie angesprochen und die Familie gestärkt werden. «In der Folge von Ereignissen wie einem Todesfall oder einer Trennung muss sich die Familie reorganisieren. Mit dieser Dynamik arbeiten wir», sagt de Montmollin. Im Vordergrund steht immer, eine nachhaltige Wirkung für die betroffenen Kinder zu erzielen, indem die Familie wieder auf eine stabile Grundlage gestellt wird. Kinder haben eine hohe Anpassungsfähigkeit. Der Tod eines Familienmitgliedes beispielweise ist schlimm und kann für Kinder sehr schwierig sein. Aber sie können sich aufrichten, wenn sie wieder einen stabilen familiären Bezugspunkt haben.
Stabilität notwendig
Bei einer Trennung der Eltern ist das Kind durch die neue Lebensstruktur gefordert. An eine neue Situation kann es sich anpassen, wenn sie stabil ist und seine Bedürfnisse berücksichtigt werden. «Sie können sich aber nicht an einen Konflikt anpassen», sagt de Montmollin. «Vor allem wenn der Konflikt zwischen zwei Elternteilen lange dauert, wird er einen sehr negativen Einfluss auf das Kind haben.» As’trame stellt fest, dass Kinder, die dieser Art von Situation jahrelang ausgesetzt waren, oft grosse Schwierigkeiten haben. Um für diese Kinder eine nachhaltige Verbesserung zu erreichen, arbeitet As’trame abgestimmt mit anderen Fachpersonen und ‑angeboten. «Wir arbeiten systemisch», sagt sie. «Wir sehen das Kind in der Familie. Wir berücksichtigen das Netzwerk der Familie und wir streben an, dass alle Fachpersonen, die mit den Familien arbeiten, in dieselbe Richtung wirken.»
Weil viele der Familien, die das Angebot von As’trame in Anspruch nehmen, in schwierigen finanziellen Situationen stecken, entspricht die Anmeldegebühr ihren Möglichkeiten. «Dennoch ist es wichtig, dass die Betroffenen selbst auch einen Beitrag zahlen», sagt de Montmollin. Im Durchschnitt zahlen die Familien 20 Prozent der Kosten. Der Rest wird über staatliche Mittel, Stiftungen und Spenden gedeckt. Auch Pro Mente Sana hat verschiedene Finanzierungsquellen. Als unabhängige Organisation für psychische Gesundheit ist sie Anlaufstelle für Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung sowie für Nahestehende. Sie setzt sich auch politisch für ihre Anliegen ein. «Menschen mit Schizophrenie oder manischer Depression haben keine Lobby», sagt Thomas Ihde. «Auch ist psychische Krankheit ein schwieriges Thema, um Spenden zu sammeln.»
Opfer des eigenen Erfolgs
Nach der Pandemie geriet Pro Mente Sana aufgrund der steigenden Nachfrage und der mangelnden Finanzierung in finanzielle Schwierigkeiten. Die Nachfrage nach ihren Angeboten stieg stark. Die Finanzierung blieb jedoch stabil. «Als wir am stärksten gebraucht wurden, mussten wir die Stiftung sanieren», sagt Ihde. Um nationale Beratungsangebote nachhaltig zu finanzieren, hat der Nationalrat mit der Motion Clivaz den Bundesrat beauftragt, eine Finanzierung zu erarbeiten. Denn noch immer deckt das Behandlungsangebot den Bedarf nicht. Umso wichtiger sind niederschwellige Erstanlaufstellen wie jene von Pro Mente Sana, Pro Juventute oder der Dargebotenen Hand. «Es ist schwierig, einen Platz zu finden», sagt Dino Demarchi von Pro Juventute. Aktuell ist jede:r zehnte Jugendliche in professioneller Behandlung und jede:r Dritte hat eine solche schon beansprucht. «Wenn wir sehen, dass die Anrufe insgesamt und insbesondere zu schwerwiegenden Themen zunehmen, ist das ein klares Zeichen, dass wir hier handeln müssen, zugunsten der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen.» Anne de Montmollin erkennt noch immer mangelndes Bewusstsein für die Problematik der Kinder, die mit schwierigen Lebensumständen konfrontiert sind. Noch werde zu wenig investiert, um die psychische Gesundheit in diesen Situation zu stärken. Sie erkennt jedoch auch ein Potenzial: Das Problem kann überwunden werden, wenn man rechtzeitig eingreift. «Unsere Aufgabe ist es, zuzuhören und zu beraten, aber auch Ressourcen zu identifizieren und den Betroffenen zu helfen, diese zu aktivieren, um die Schwierigkeiten zu bewältigen. Diese Art von Massnahmen möchten wir fördern.»