Die neue Publikation «Hier und jetzt engagiert» untersucht vier Projekte zur Mobilisierung Freiwilliger und zivilgesellschaftliches Engagement. Welche Erkenntnisse können Sie für Ihre Arbeit mitnehmen?
Die Fallstudie, die das Migros-Kulturprozent beim Gottlieb Duttweiler Institute GDI in Auftrag gegeben hat, liefert sehr konkrete und anschauliche Beispiele dafür, wie es Vereinen und sozialen Gruppen gelingen kann, freiwillig Engagierte zu gewinnen. Denn schon lange ist ein Thema, dass es einen Wandel im zivilgesellschaftlichen Engagement gibt (Studie «Die neuen Freiwilligen»): Freiwillige wollen sich stärker projektbasiert mit viel Gestaltungsspielraum einbringen. Die vorgestellten Projekte zeigen, wie es gelingen kann, Interessierte niedrigschwellig anzusprechen, die Community gut miteinander zu verbinden und vor allem einen Möglichkeitsraum zu bieten, um – wenn man möchte – kreativ mitzugestalten. Dies geschieht aber nicht von allein. Zentral sind Menschen, die diesen Nährboden sorgsam hüten und koordinieren. Das wird oft vergessen, weil viele denken, Freiwilligenarbeit sei doch ein Selbstläufer.
Welchen Nutzen bietet die Fallstudie Einzelpersonen oder Vereinen und Communities, die für ein Projekt auf das Engagement von Freiwilligen angewiesen sind?
Der Autor, Dr. Jakub Samochowiec, vom GDI macht in seinen Interviews Gelingensfaktoren aus, um Engagierte zu erreichen. Wir haben diese in einen Selbstcheck für Vereine oder soziale Gruppen zusammengefasst: dieser bietet mit konkreten Fragen einen roten Faden dafür, gemeinsam im Team zu überprüfen, wie Interessierte überhaupt für das Projekt angesprochen werden und inwiefern es attraktiv ist, mitzuwirken. Dabei ist der bewusste Austausch im bestehenden Projektteam ganz sicher ein erster guter Schritt.
Freiwillige wollen sich stärker projektbasiert mit viel Gestaltungsspielraum einbringen.
Jessica Schnelle, Leiterin Soziales bei der Direktion Gesellschaft & Kultur beim Migros-Genossenschafts-Bund
Ein Beispiel im Bericht ist die Critical Mass. Bei dieser Aktion macht ein «Schwarm» von Velofahrer:innen auf sich als Form des Individualverkehrs aufmerksam. Die Aktion sorgt in Zürich auch für Unmut, weil es den Autoverkehr stört: Wie weit darf zivilgesellschaftliches Engagement gehen?
Das Engagement von Critical Mass haben wir angeschaut, weil sie ganz bewusst keine zivilgesellschaftliche Rechtsform anstreben und versuchen, sich ohne Hierarchien zu organisieren. Es gibt zum Beispiel Regeln, dass sich Entscheidungsmacht nicht zentralisieren darf und jede und jeder, die/der mitmacht, auch vorfahren dürfte. Die Konflikte, die aus der Aushandlung von Nutzungsrechten und ‑pflichten, hier im Fall von Mobilität, entstehen können, gehören zu demokratischen Prozessen dazu. Die Wahrung der Menschenrechte ist dabei grundlegend.
Welche Rolle spielt die gesellschaftliche Wahrnehmung eines Projektes bei Ihrer Fördertätigkeit?
Bei vielen Fördertätigkeiten des Migros-Kulturprozent ist die Bewusstseinsbildung innerhalb der Gesellschaft ein angestrebtes Ziel. Denn mit dem geforderten gesellschaftlichen Wandel geht einher, dass zum Beispiel tabuisierte Themen oder alteingesessene Gewohnheiten hinterfragt werden müssen. Um Veränderungen zu bewirken, ist eine breite Wahrnehmung bei vielen Gruppen in der Bevölkerung wichtig. Daher ist uns natürlich auch die gesellschaftliche Wahrnehmung von Projekten und Themen sehr wichtig.
Braucht unsere Gesellschaft überhaupt freiwilliges Engagement?
In der Schweiz hat zivilgesellschaftliches Engagement eine sehr grosse Tradition. Eine Schweiz ohne Freiwilligenarbeit wäre nicht vorstellbar, sagt Markus Lamprecht, der Autor des Freiwilligenmonitors. Laut diesem gibt es in der Schweiz rund 100’000 Vereine. Jede vierte Person über 15 Jahren führt mindestens eine unbezahlte Freiwilligenarbeit aus, bei den 40- bis 64-Jährigen sind es gar ein Drittel. Im Jahr 2020 haben laut dem Bundesamt für Statistik 1,4 Millionen Menschen mehr als 600 Millionen freiwillige Arbeitsstunden verrichtet. Ob in der Politik, bei Freizeitaktivitäten, in sozialen Bewegungen, bei Hilfswerken oder in der Nachbarschaftshilfe: Freiwilliges Engagement stellte eine sehr wichtige Säule für das Funktionieren unserer Gesellschaft dar.
Gärngschee – Basel hilft, ein anderes Fallbeispiel, ist in der Pandemie entstanden. Haben Projekte aus dieser Zeit einen nachhaltigen Einfluss auf das zivilgesellschaftliche Engagement?
Dies lässt sich nicht pauschal beantworten. Viel zitiert war ja, dass die Pandemie wie ein Brennglas gesellschaftlich relevante Themen hervorbringe. Im Fall von «Gärngschee – Basel hilft» entstand ein starkes Netzwerk von und für Menschen in prekären Lebenssituationen, die von der Pandemie besonders betroffen waren. Gärngschee hat damit ein Bedürfnis aufgespürt und sehr sorgsam die Kultur des Netzwerks aufgebaut.
Die Frage, wie mit gesteigerten Lebenskosten umzugehen ist, wird uns in der Schweiz übrigens auch zunehmend beschäftigen. Deshalb haben auch wir beim Migros-Kulturprozent/Soziales neu einen Förderschwerpunkt, mit dem wir einen Beitrag dazu leisten wollen, dass die Bewusstseinsbildung über das Leben mit Armutserfahrung in der Schweiz zunimmt, reproduzierende Zusammenhänge in der gesellschaftlichen Wahrnehmung minimiert werden und damit die soziale Mobilität durchlässiger wird.
Während die einen Raum benötigen, um auch eigene Ideen zu verwirklichen, sind andere total froh, wenn sie ein Engagement mit klaren Vorgaben zu Tätigkeit, Zeit und Rolle wahrnehmen zu dürfen.
Jessica Schnelle
Anders gesagt: Notlagen verstärken oft gesellschaftliche Probleme. Ob daraus zivilgesellschaftliches Engagement nachhaltig entsteht, ist eher davon abhängig, inwiefern eine Lösung tatsächlichen Mehrwert verspricht und wie sorgsam der Nährboden des Engagements gepflegt wird.
Welche Rolle spielen die Mobilisierung und die Community, damit sich Menschen freiwillig engagieren?
Das ist für mich die zentrale Botschaft: die Mobilisierung und Pflege der Community sind sehr relevant dafür. Sie ist Motor und Schmiermittel. Viele Menschen engagieren sich auch aus einem persönlichen, sozialen Motiv: sie wollen gemeinsam mit anderen etwas bewegen. Es braucht also Gelegenheit für Vernetzung und Austausch, ein gewisser «Code of Conduct» – quasi eine Kultur des gemeinschaftlichen Engagements – muss etabliert werden. Und während die einen Raum benötigen, um auch eigene Ideen (Spin-offs) zu verwirklichen, sind andere total froh, wenn sie ein Engagement mit klaren Vorgaben zu Tätigkeit, Zeit und Rolle wahrnehmen zu dürfen. Dies im Blick zu haben und zu ermöglichen und mit Rahmenvorgaben den Kern und die Kontinuität des Purpose zu wahren, ist wichtig und sollte für Förderungen im Blick sein.