The Philanthropist: Kurz vor Jahresende starb Paul Grüningers Tochter Ruth Roduner-Grüninger im Alter von 100 Jahren. Welche Rolle hat sie für die Stiftung gespielt?
Stefan Keller: Sie hat die Stiftung zusammen mit ihren Söhnen gegründet. Viele Jahre war sie Präsidentin des Stiftungsrates und blieb bis zum Schluss Ehrenpräsidentin.
Was war der Auslöser für die Stiftungsgründung?
1998 stimmte der Grosse Rat des Kanton St. Gallen einer Wiedergutmachung zu. 1,3 Millionen Franken sprach er den Nachkommen von Paul Grüninger zu. Jahrelang hatte die Familie für die Rehabilitation von Paul Grüninger gekämpft. Aber sie wollten sich nicht bereichern. Deswegen haben sie mit dem Geld eine Stiftung gegründet.
Welchen Zweck verfolgt die Stiftung?
Sie hat zwei Zwecke. Zum einen soll sie die Erinnerung an das Handeln von Paul Grüninger pflegen. Zum anderen soll sie Menschen und Ideen unterstützen, die heute im Sinne von Paul Grüninger handeln.
Hierzu vergibt die Stiftung den Paul Grüninger Preis?
Etwa alle drei Jahre vergeben wir den Preis in der Höhe von 50 000 Franken.
Sie haben internationale Preisträger*innen – wie erfolgt die Vergabe?
Wir schreiben den Preis international aus, was dank des Internets heute relativ einfach ist. Diese Ausschreibung wird weiterverbreitet, etwa durch Menschenrechtsorganisationen oder auch Schweizer Diplomat*innen. So erhalten wir Vorschläge. Wir recherchieren diese aus und wählen im Stiftungsrat den Preisträger oder die Preisträgerin.
Ausländische Preisträger*innen dürften die Person Paul Grüninger kaum kennen.
Das stimmt. Aber natürlich interessieren sie sich für die Person und sein Handeln. Beim Preis geht es auch nicht nur um das Geld. Er ist mit einer Intervention verbunden. 2019 ging der Preis beispielsweise an die Crew des Flüchtlingsrettungsschiffes Iuventa. Auf ihren Wunsch haben wir mit der Preisverleihung auch ein Treffen ermöglicht mit anderen Fluchthelfern aus dem Mittelmeerraum und aus der Schweiz, die kriminalisiert werden.
Es ist wichtig, diese Geschichte immer wieder zu erzählen, damit sie nicht vergessen geht.
Stefan Keller, Vizepräsident der Paul Grüninger Stiftung
Weshalb ist diese Intervention wichtig?
Paul Grüninger war im entscheidenden Moment nicht gehorsam, sondern er blieb menschlich. Auch wenn er offiziell die Flüchtlinge in den Tod hätte schicken müssen, blieb er menschlich. Mit dem Preis überlegen wir uns heute, wer in seinem Sinn handelt. Solchen Leuten wollen wir mit der Intervention zeigen, dass sie nicht alleine sind.
Paul Grüninger starb, bevor er rehabilitiert wurde. Weshalb war es wichtig, trotzdem weiter für diese Rehabilitation zu kämpfen?
Der Fall geht weit über die Person hinaus. Das Symbolische ist wichtig. Er hat sich in einer Zeit dissident verhalten, als die Flüchtlingspolitik der Schweiz aus Abwehr bestand. Ich habe viele Menschen kennengelernt, die ihm sein Leben verdanken.
Sie sind selbst seit der Stiftungsgründung im Stiftungsrat. Wie sind Sie zur Stiftung gestossen?
Ich rekonstruierte die Geschichte Paul Grüningers historisch. Paul Rechsteiner bereitete dann als Jurist die Rehabilitation vor. Er ist heute Präsident der Stiftung.
Wie kamen Sie mit der Geschichte von Paul Grüninger in Kontakt?
Ich hatte zuvor eine grosse historische Sozialreportage über die Region veröffentlicht und wurde deshalb angefragt. So entstand 1993 «Grüningers Fall». Im Moment ist die 6. Auflage im Druck.
Die Erinnerung zu bewahren gehört zum Zweck der Stiftung.
Es ist wichtig, diese Geschichte immer wieder zu erzählen, damit sie nicht vergessen geht. Und ich erlebe, dass das Leben von Paul Grüninger noch immer interessiert. Dieses Jahr jährt sich sein Todestag zum 50. Mal, dazu gibt es Veranstaltungen, bei denen etwa die zwei Kinofilme über den Fall gezeigt werden, die es bereits gibt.
Paul Grüninger
Der St. Galler Polizeikommandant Paul Grüninger hat 1938 und 1939 hunderten jüdischen Flüchtlingen die Flucht in die Schweiz ermöglicht und sie vor der nationalsozialistischen Verfolgung gerettet. 1939 wurde er von der St. Galler Regierung fristlos entlassen. Bis zu seinem Tod 1972 lebte er in Armut. 1993 rehabilitiert ihn die St. Galler Regierung politisch. 1995 wurde seine Verurteilung aufgehoben und das Bezirksgericht St. Gallen sprach ihn frei. 1998 stimmte der Grosse Rat des Kantons der materiellen Wiedergutmachung zu.