Ameen Jubran, Gründer der Jeel Albena Association, trifft die 80 Jahre alte Juma’ah, die aus vor vier Jahren aus Ad Durayhimi vertrieben wurde. Bild: UNHCR

Die Menschen in den Fokus rücken – und nicht die poli­ti­sche Krise

Ameen Jubran ist der diesjährige Preisträger des Nansen Award, des UNHCR-Flüchtlingspreises. Ausgezeichnet wurde er für seinen humanitären Einsatz. Mit dem Hilfswerk Jeel Albena Association for Humanitarian Development setzt er sich in Jemen für die vertriebenen Familien ein.

Sie sind selbst ein Vertrie­be­ner. Ihr Leben war in Gefahr: Wie haben diese Erfah­run­gen Ihr Leben verän­dert?
Ameen Jubran: Am Anfang stand ein Ereig­nis im Jahr 2005. Eine Bombe explo­dierte in meiner Nach­bar­schaft. Sechs Klas­sen­ka­me­ra­den kamen bei dieser Explo­sion ums Leben. Damals reali­sierte ich, dass ich etwas unter­neh­men muss, um den Betrof­fe­nen zu helfen. Als der Krieg später ganz Jemen erfasste zerstörte ein Luft­an­griff auch unser Nach­bar­schaft in der Stadt Saada. Wir muss­ten alle flie­hen. Zusam­men mit mehre­ren 10’000 Menschen flohen wir. Dabei muss­ten wir alles zurück­las­sen. Ein Detail ist mir ganz beson­ders in Erin­ne­rung geblie­ben. Als ein Haus in unse­rer Nach­bar­schaft getrof­fen wurde war auch unser Haus betrof­fen und es flogen über­all Glas­split­ter herum. Ich sah meine kleine Toch­ter. Sie war ganz mit Blut verschmiert. Ich geriet in Panik. Ich hatte Angst. Alles war mit Staub, Asche und Blut bedeckt. Ich rannte rüber zu meiner Toch­ter, hob sie auf und trug sie in den ersten Stock, um Hilfe zu holen. Erst da reali­sierte, dass ich nicht meine Toch­ter in den Händen hielt, sondern ein Fahr­rad. Das klingt jetzt komisch, aber es war sehr drama­tisch. Es zeigt, wie entsetzt ich war.

Sie waren selbst Vertrie­be­ner und haben sich in der huma­ni­tä­ren Arbeit enga­giert.
Wir trafen viele vertrie­bene Fami­lien. Wir hörten ihre Geschich­ten und ihr Leiden. Sie hatten ein Kinder, ein unge­bo­re­nes Kind oder ihre Fami­lie verlo­ren. Wir versuch­ten, ihnen ihre Ängste zu nehmen. Diese Begeg­nun­gen haben uns moti­viert, unsere huma­ni­täre Arbeit zu machen. Diesen Fami­lien zu helfen war für uns ein Weg, das Leben und die Situa­tion zu akzeptieren.

Alles, woran ich denken konnte, waren die Vertriebenen. 

Ameen Jubran, Gewin­ner des Nansen Award 2021 

Als Sie auf der Flucht waren: Wie schnell reali­sier­ten Sie, dass dies nicht einfach nur eine Episode ist sondern dass sich ihr Leben radi­kal verän­dert hat?
Nach­dem wir unser Zuhause verlas­sen muss­ten versuchte wir, unser Leben möglichst gut wieder herzu­stel­len. Ich suchte Möbel und bemühte mich, eine lebens­werte Umge­bung zu schaf­fen. Ich wollte eine gewisse Norma­li­tät wieder­her­stel­len. Denn als ich mit meinen zwei Töch­ter und mit meiner Frau alles zurück­las­sen musste reali­sierte ich, welchen Heraus­for­de­run­gen sich Vertrie­bene stel­len müssen. Du lässt alles zurück. Deine Perspek­tive ändert sich. Der Wert der Dinge wird ein ande­rer. Alles, woran ich denken konnte, waren die Vertrie­be­nen. Ja, mein Leben änderte sich.

Was haben Sie gemacht?
Ich habe mir ein Ziel gesetzt. Ich habe meine Zeit der Hilfe vertrie­be­ner Fami­lien gewid­met. Wir beschlos­sen zusam­men mit ande­ren Kolle­gen und Unter­stüt­zern Jeel Albena Asso­cia­tion for Huma­ni­ta­rian Deve­lo­p­ment zu grün­den, um uns für die Bedürf­nisse dieser Fami­lien einzu­set­zen. Dies gab uns eine tägli­che Verant­wor­tung. All das Erlebte hat mein Leben verän­dert. Aber es hat sich zum Posi­ti­ven gewen­det. Ich konnte meine Zeit den Vertrie­be­nen widmen.

Heisst das, ihr huma­ni­tä­res Enga­ge­ment hat Ihnen selbst gehol­fen, mit der Situa­tion umzu­ge­hen?
In der Tat. Wir haben auch ein Motto erar­bei­tet: «Von Jeme­ni­ten, für Jeme­ni­ten». Damit wollen wir sagen, dass Jeel Albena Unter­stüt­zung für die Vertrie­be­nen bietet. Zudem sind 40 Prozent unse­rer Mitar­bei­ten­den selbst Vertrie­bene. Das hilft uns auch im Kontakt mit Zwischen­händ­lern oder Behör­den. Die Betrof­fe­nen selbst zu inte­grie­ren trägt zu unse­rer Moti­va­tion bei, es treibt uns an, trotz der schwie­ri­gen Sicher­heits­lage weiter­zu­ma­chen, trotz extre­mer Wetter­be­din­gun­gen, trotz Covid-19. Wir wollen das Leiden der Menschen hier verringern.

Das Team des Hilfs­wer­kes Jeel Albena in Jemen zusam­men mit UNHCR-Vertre­tern im As Sukhnah Lager. Grün­der Ameen Jubran 5. v.l. Bild: UNHCR

Ameen Jubran, Grün­der von Jeel Albena Asso­cia­tion, in al-Mans­uri­yah, Huday­dah. Bild: UNHCR

Ameen Huss­ain Jubran, Grün­der des Hilfs­wer­kes Jeel Albena, in einem durch einen Luft­an­griff zerstör­ten Haus in Sana’a. Bild: UNHCR

Wenn Sie mit den Vertrie­be­nen spre­chen, was sind deren Hoff­nun­gen für die Zukunft?£Alles, was sie wollen, ist ein Leben in Frie­den und in ihre Heimat zurück­zu­keh­ren. Sie wollen eine Erwerbs­mög­lich­keit um nicht mehr von huma­ni­tä­ren Orga­ni­sa­tio­nen abhän­gig sein um zu über­le­ben. Sie wollen ihre Norma­li­tät zurück, dass Kinder wieder unbe­schwert in die Schule und die Frauen in Würde leben können. Der einzige Weg, dies zu errei­chen ist, wenn Jemen Frie­den findet. Dann wir Jemen wieder ein fröh­li­cher Ort.

Sie haben Jeel Albena mit Studi­en­kol­le­gen gegrün­det. War es schwie­rig, diese zu über­zeu­gen?
Im Gegen­teil. Sie haben mich moti­viert, mit der huma­ni­tä­ren Arbeit fort­zu­fah­ren. Anfangs 2015 hatte ich beschlos­sen, dass ich mehr Zeit mit meiner Fami­lie verbrin­gen müsse. Doch meine Kolle­gen hinter­frag­ten, ob ich das wirk­lich wolle. Mein ganzes Leben hatte ich dem Aufbau huma­ni­tä­rer Projekte gewid­met. Das Leben ganzer Fami­lien hängt von dieser Arbeit ab. Meine Kolle­gen frag­ten mich deswe­gen, ob ich das wirk­lich stop­pen wollte. Und auch meine Fami­lie moti­vierte mich, als sie von meinen Plänen erfuhr, meine Arbeit fort­zu­set­zen. So habe ich nach 2015 sogar noch mehr Zeit in die huma­ni­täre Arbeit investiert.

Was sind aktu­ell die gröss­ten Heraus­for­de­run­gen?
Unsere grösste Heraus­for­de­rung bleibt, die Bedürf­nisse der Vertrie­be­nen zu befrie­di­gen. Wir können dies erst zu rund 40 Prozent. Es fehlen die Ressour­cen. Die zweite grosse Heraus­for­de­rung ist Covid-19. Gewisse Dienst­leis­tun­gen können wir wegen der Sicher­heits­vor­keh­run­gen nicht mehr erfüllen.

Wie kann Europa helfen?
Wich­tig ist für uns, dass die Medien über diese huma­ni­täre Krise berich­ten. Meist liegt der Fokus der Bericht­erstat­tung auf der poli­ti­schen Seite der Krise. Die Menschen und ihr Leid gehen verges­sen. Dabei schät­zen Exper­ten, dass Jemen aktu­ell am Rande einer Hungers­not steht. Wir müssen jetzt handeln und nicht warten, bis diese einge­trof­fen ist. Wir hoffen, die inter­na­tio­nale Gemein­schaft reali­siert die huma­ni­täre Situa­tion in Jemen.

Wir müssen jetzt handeln und nicht warten, bis die Hungers­not einge­trof­fen ist.

Ameen Jubran, Gewin­ner des Nansen Award 2021

Nansen Award

Seit 1954 vergibt die UNHCR den Nansen Award. Sie ehrt damit Perso­nen oder Orga­ni­sa­tio­nen, die sich für Flücht­linge einset­zen. Der Preis ist mit 150’000 Dollar dotiert. Der Namens­ge­ber Fridt­jof Wedel-Jarls­berg Nansen war der erste Hoch­kom­mis­sar für Flücht­lings­fra­gen, Wissen­schaft­ler und Polarforscher.

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