Sie sind selbst ein Vertriebener. Ihr Leben war in Gefahr: Wie haben diese Erfahrungen Ihr Leben verändert?
Ameen Jubran: Am Anfang stand ein Ereignis im Jahr 2005. Eine Bombe explodierte in meiner Nachbarschaft. Sechs Klassenkameraden kamen bei dieser Explosion ums Leben. Damals realisierte ich, dass ich etwas unternehmen muss, um den Betroffenen zu helfen. Als der Krieg später ganz Jemen erfasste zerstörte ein Luftangriff auch unser Nachbarschaft in der Stadt Saada. Wir mussten alle fliehen. Zusammen mit mehreren 10’000 Menschen flohen wir. Dabei mussten wir alles zurücklassen. Ein Detail ist mir ganz besonders in Erinnerung geblieben. Als ein Haus in unserer Nachbarschaft getroffen wurde war auch unser Haus betroffen und es flogen überall Glassplitter herum. Ich sah meine kleine Tochter. Sie war ganz mit Blut verschmiert. Ich geriet in Panik. Ich hatte Angst. Alles war mit Staub, Asche und Blut bedeckt. Ich rannte rüber zu meiner Tochter, hob sie auf und trug sie in den ersten Stock, um Hilfe zu holen. Erst da realisierte, dass ich nicht meine Tochter in den Händen hielt, sondern ein Fahrrad. Das klingt jetzt komisch, aber es war sehr dramatisch. Es zeigt, wie entsetzt ich war.
Sie waren selbst Vertriebener und haben sich in der humanitären Arbeit engagiert.
Wir trafen viele vertriebene Familien. Wir hörten ihre Geschichten und ihr Leiden. Sie hatten ein Kinder, ein ungeborenes Kind oder ihre Familie verloren. Wir versuchten, ihnen ihre Ängste zu nehmen. Diese Begegnungen haben uns motiviert, unsere humanitäre Arbeit zu machen. Diesen Familien zu helfen war für uns ein Weg, das Leben und die Situation zu akzeptieren.
Alles, woran ich denken konnte, waren die Vertriebenen.
Ameen Jubran, Gewinner des Nansen Award 2021
Als Sie auf der Flucht waren: Wie schnell realisierten Sie, dass dies nicht einfach nur eine Episode ist sondern dass sich ihr Leben radikal verändert hat?
Nachdem wir unser Zuhause verlassen mussten versuchte wir, unser Leben möglichst gut wieder herzustellen. Ich suchte Möbel und bemühte mich, eine lebenswerte Umgebung zu schaffen. Ich wollte eine gewisse Normalität wiederherstellen. Denn als ich mit meinen zwei Töchter und mit meiner Frau alles zurücklassen musste realisierte ich, welchen Herausforderungen sich Vertriebene stellen müssen. Du lässt alles zurück. Deine Perspektive ändert sich. Der Wert der Dinge wird ein anderer. Alles, woran ich denken konnte, waren die Vertriebenen. Ja, mein Leben änderte sich.
Was haben Sie gemacht?
Ich habe mir ein Ziel gesetzt. Ich habe meine Zeit der Hilfe vertriebener Familien gewidmet. Wir beschlossen zusammen mit anderen Kollegen und Unterstützern Jeel Albena Association for Humanitarian Development zu gründen, um uns für die Bedürfnisse dieser Familien einzusetzen. Dies gab uns eine tägliche Verantwortung. All das Erlebte hat mein Leben verändert. Aber es hat sich zum Positiven gewendet. Ich konnte meine Zeit den Vertriebenen widmen.
Heisst das, ihr humanitäres Engagement hat Ihnen selbst geholfen, mit der Situation umzugehen?
In der Tat. Wir haben auch ein Motto erarbeitet: «Von Jemeniten, für Jemeniten». Damit wollen wir sagen, dass Jeel Albena Unterstützung für die Vertriebenen bietet. Zudem sind 40 Prozent unserer Mitarbeitenden selbst Vertriebene. Das hilft uns auch im Kontakt mit Zwischenhändlern oder Behörden. Die Betroffenen selbst zu integrieren trägt zu unserer Motivation bei, es treibt uns an, trotz der schwierigen Sicherheitslage weiterzumachen, trotz extremer Wetterbedingungen, trotz Covid-19. Wir wollen das Leiden der Menschen hier verringern.
Wenn Sie mit den Vertriebenen sprechen, was sind deren Hoffnungen für die Zukunft?£Alles, was sie wollen, ist ein Leben in Frieden und in ihre Heimat zurückzukehren. Sie wollen eine Erwerbsmöglichkeit um nicht mehr von humanitären Organisationen abhängig sein um zu überleben. Sie wollen ihre Normalität zurück, dass Kinder wieder unbeschwert in die Schule und die Frauen in Würde leben können. Der einzige Weg, dies zu erreichen ist, wenn Jemen Frieden findet. Dann wir Jemen wieder ein fröhlicher Ort.
Sie haben Jeel Albena mit Studienkollegen gegründet. War es schwierig, diese zu überzeugen?
Im Gegenteil. Sie haben mich motiviert, mit der humanitären Arbeit fortzufahren. Anfangs 2015 hatte ich beschlossen, dass ich mehr Zeit mit meiner Familie verbringen müsse. Doch meine Kollegen hinterfragten, ob ich das wirklich wolle. Mein ganzes Leben hatte ich dem Aufbau humanitärer Projekte gewidmet. Das Leben ganzer Familien hängt von dieser Arbeit ab. Meine Kollegen fragten mich deswegen, ob ich das wirklich stoppen wollte. Und auch meine Familie motivierte mich, als sie von meinen Plänen erfuhr, meine Arbeit fortzusetzen. So habe ich nach 2015 sogar noch mehr Zeit in die humanitäre Arbeit investiert.
Was sind aktuell die grössten Herausforderungen?
Unsere grösste Herausforderung bleibt, die Bedürfnisse der Vertriebenen zu befriedigen. Wir können dies erst zu rund 40 Prozent. Es fehlen die Ressourcen. Die zweite grosse Herausforderung ist Covid-19. Gewisse Dienstleistungen können wir wegen der Sicherheitsvorkehrungen nicht mehr erfüllen.
Wie kann Europa helfen?
Wichtig ist für uns, dass die Medien über diese humanitäre Krise berichten. Meist liegt der Fokus der Berichterstattung auf der politischen Seite der Krise. Die Menschen und ihr Leid gehen vergessen. Dabei schätzen Experten, dass Jemen aktuell am Rande einer Hungersnot steht. Wir müssen jetzt handeln und nicht warten, bis diese eingetroffen ist. Wir hoffen, die internationale Gemeinschaft realisiert die humanitäre Situation in Jemen.
Wir müssen jetzt handeln und nicht warten, bis die Hungersnot eingetroffen ist.
Ameen Jubran, Gewinner des Nansen Award 2021
Nansen Award
Seit 1954 vergibt die UNHCR den Nansen Award. Sie ehrt damit Personen oder Organisationen, die sich für Flüchtlinge einsetzen. Der Preis ist mit 150’000 Dollar dotiert. Der Namensgeber Fridtjof Wedel-Jarlsberg Nansen war der erste Hochkommissar für Flüchtlingsfragen, Wissenschaftler und Polarforscher.