Matthias Zehnder, Bild: Ferdinando Godenzi

«Die meis­ten Kultur­teile sind heute Hors-Sol-Produkte»

Medienwissenschaftler und Publizist Matthias Zehnder spricht im Interview über die Brückenfunktion des Kulturjournalismus und wie er sich finanzieren liesse. Matthias Zehnder ist Referent an der Tagung «Kulturberichterstattung in der Krise» am 26. August 2021 in Solothurn.

The Philanthropist: Soziale Medien, Inter­net, News­let­ter – Kultur kann sich heute direkt an ihr Publi­kum rich­ten. Braucht es noch einen Kultur­jour­na­lis­mus?
Matthias Zehn­der: Ja, Kultur kann sich, wie die Poli­tik, die Wissen­schaft oder jedes Unter­neh­men, direkt an ihr Publi­kum rich­ten. Jour­na­lis­mus braucht es trotz­dem, aus drei Grün­den.
Erstens setzt es Vorwis­sen und ein bereits bestehen­des Inter­esse voraus, damit jemand die Website eines Muse­ums oder eines Thea­ters aufsucht oder einer Kultur­in­sti­tu­tion in den Sozia­len Medien folgt. Medien wie Tages­zei­tun­gen, das Radio oder auch Inter­net­ma­ga­zine machen ihre Nutzer* innen mit Dingen bekannt, von denen sie bisher nicht wuss­ten, dass sie sich dafür inter­es­sie­ren. Das ist die viel­leicht wich­tigste Leis­tung von Medien: Sie ermög­li­chen es dem Publi­kum, über seine eige­nen Ränder hinaus zu lesen.
Zwei­tens schaf­fen die Kultur­anbie­ter auf ihrer Website, im News­let­ter oder in den sozia­len Medien immer nur Zugang zu ihrem eige­nen Kultur­ange­bot. Man sieht quasi immer nur einen Baum aufs Mal. Kultur ist aber nicht eine Summe von Bäumen, sondern ein Wald, also ein Geflecht, ein Netz­werk von kultu­rel­len Inter­ven­tio­nen. Diese Inter­ak­tio­nen kann nur Kultur­jour­na­lis­mus sicht­bar machen.
Drit­tens gehört zum Kultur­jour­na­lis­mus seit je die Kritik. Das umfasst nicht nur die kriti­sche Ausein­an­der­set­zung mit einem kultu­rel­len Ange­bot, sondern auch das Erschlies­sen des Ange­bots durch Einord­nung und Erläu­te­rung. Glaub­wür­dig ist Kritik nur, wenn sie unab­hän­gig von Aussen­ste­hen­den geleis­tet wird.

Das gilt für den Jour­na­lis­mus allge­mein. Dieser ist gene­rell in der Krise. Hat der Kultur­jour­na­lis­mus hier eine Sonder­stel­lung?
Kleine Korrek­tur: Nicht der Jour­na­lis­mus ist in der Krise, sondern seine Finan­zier­bar­keit, weil die bishe­ri­gen Geschäfts­mo­delle nicht mehr funk­tio­nie­ren. Zum Problem für den Jour­na­lis­mus wird das, weil die News­rooms der gros­sen Medien sich stark auf das Inter­net ausge­rich­tet haben: Es zählt der schnelle Klick, nicht der lang­fris­tige Lese­er­folg. Kultur­jour­na­lis­mus hat da schlechte Karten: Kultur ist schlecht boule­var­di­sier­bar. Deshalb haben die meis­ten Zeitun­gen ihren Kultur­teil abge­schafft. Die Seiten heis­sen jetzt «Piazza» oder «Kultur & Leben» und redu­zie­ren Kultur gern auf Block­bus­ter-Themen und Glanz&Gloria.

Was nicht performt, fliegt raus. Deshalb gibt es keine Lite­ra­tur im Discoun­ter – und auch nicht mehr in den Medien.

Matthias Zehn­der

Wo findet der Kultur­jour­na­lis­mus über­haupt noch statt?
Die meis­ten Tages­zei­tun­gen haben noch Kultur­teile und auch SRF bietet, insbe­son­dere auf SRF 2 Kultur, natür­lich Kultur. Mit einer gros­sen Einschrän­kung: Die meis­ten Schwei­zer Tages­zei­tun­gen gehö­ren heute entwe­der zu CH Media oder zu Tame­dia. Das bedeu­tet, dass eine Zentral­re­dak­tion die über­re­gio­na­len Inhalte für alle Titel aufbe­rei­tet. Lokal vor Ort arbei­tet nur noch eine Lokal­re­dak­tion. Kultur ist aber in den meis­ten Fällen ein «Mantel­thema». Das bedeu­tet zum Beispiel, dass in allen Tame­dia-Titeln gleich­zei­tig dasselbe Buch oder derselbe Film bespro­chen wird. Dabei muss es sich natür­lich um ein Thema handeln, das in allen Zeitun­gen funk­tio­niert. Das hat dazu geführt, dass die Kultur­be­richt­erstat­tung ihre loka­len Wurzeln verlo­ren hat. Die meis­ten Kultur­teile sind heute Hors-Sol-Produkte, die über­all in der Schweiz funk­tio­nie­ren müssen.

Es fehlt also die lokale Kultur­be­richt­erstat­tung?
Zwar gibt es eine Reihe von klei­nen, loka­len Maga­zi­nen und Inter­net­an­ge­bo­ten, die versu­chen, in die Lücke zu sprin­gen. Viele dieser Versu­che schei­tern aber an mangeln­den Mitteln. Lokal­jour­na­lis­mus lässt sich ausschliess­lich über Benutzer*innen kaum finan­zie­ren, weil die Märkte dafür in der Schweiz zu klein sind. Viele Kultur­stif­tun­gen können oder wollen Medien aber (noch) nicht unter­stüt­zen, weil das in ihrem Stif­tungs­zweck nicht vorge­se­hen ist – und wohl auch, weil Medi­en­an­ge­bote immer gesell­schaft­lich kontro­ver­ser sind als Kulturprojekte.

Wer soll denn die Bericht­erstat­tung bezah­len?
Sinn­voll wäre es, wenn ein Teil der Gelder, die in die Kultur flies­sen, für Jour­na­lis­mus über Kultur zur Verfü­gung stünde. Ich denke an eine Grös­sen­ord­nung von etwa fünf Prozent. Jour­na­lis­mus über Kultur muss zu einem selbst­ver­ständ­li­chen Teil der Kultur werden, der nicht nur mitge­dacht, sondern auch mitfi­nan­ziert wird. Natür­lich darf das Geld nicht direkt von Kultur­anbie­tern an Medien flies­sen. Dafür braucht es Inter­me­diäre, zum Beispiel in Form von kanto­na­len Stif­tun­gen, die einen kultu­rel­len Service public unterstützen.

Fehlt nicht einfach die Leser­schaft und damit die Nach­frage?
Es ist wohl weni­ger eine Frage der Leser­schaft, als der ökono­mi­schen Modelle. Die meis­ten Medien in der Schweiz setzen heute im Inter­net auf Reich­weite. Dazu gehört leider immer mehr auch SRF. Anders als bei Zeitun­gen geht es dabei nicht nur um die Reich­weite des gesam­ten Produkts, sondern auch um die Reich­weite jedes einzel­nen Inhalts. Die meis­ten Medien arbei­ten im Inter­net wie ein Discoun­ter im Retail­ge­schäft: Was nicht performt, fliegt raus. Deshalb gibt es keine Lite­ra­tur im Discoun­ter – und auch nicht mehr in den Medien.

Kultur­jour­na­lis­mus kann span­nend, inter­ak­tiv und inklu­siv sein. Und manch­mal darf Kultur­jour­na­lis­mus auch heute anspruchs­voll bleiben.

Matthias Zehn­der

Aber ist Kultur­jour­na­lis­mus nicht oft einfach sehr elitär und zielt an den Menschen vorbei?
Als Medien Einweg-Veran­stal­tun­gen waren und das Publi­kum sich allen­falls in einem Leser­brief mal Luft verschaf­fen konnte, neigte Kultur­jour­na­lis­mus in der Tat zu einem Ex-Cathe­dra-Stil: Alter Mann weiss es besser. Diese Zeiten sind aber schon lange vorbei. Kultur­jour­na­lis­mus kann span­nend, inter­ak­tiv und inklu­siv sein. Und manch­mal darf Kultur­jour­na­lis­mus auch heute anspruchs­voll bleiben.

Welche Bedeu­tung hat der Kultur­jour­na­lis­mus für die Gesell­schaft?
Kultur­jour­na­lis­mus beinhal­tet zwei Aspekte: Jour­na­lis­mus über Kultur und Jour­na­lis­mus als Kultur. Beides ermög­licht es der Gesell­schaft, sich jenseits der Logik von Wirt­schaft und Konsum mit der Welt und dem Mensch­sein darin ausein­an­der­zu­set­zen. Anders gesagt: Guter Kultur­jour­na­lis­mus schlägt die Brücke zwischen Kultur und Gesellschaft.

Und diese Brücke bedeu­tet für die Kultur den Zugang zur Gesell­schaft?
Kultur­jour­na­lis­mus kann Kultur erschlies­sen und erläu­tern und für eine kriti­sche Ausein­an­der­set­zung sorgen. Guter Kultur­jour­na­lis­mus ist Reso­nanz- und Refe­renz­raum für die Kultur.

Was wären die Folgen, würde Kultur­jour­na­lis­mus verschwin­den?
Ohne Kultur­jour­na­lis­mus können nur die ganz gros­sen Anbie­ter über­le­ben – also genau jene Player, auf die sich der reich­wei­ten­ori­en­tierte Kultur­jour­na­lis­mus heute konzentriert.

Dr. Matthias Zehn­der ist Medi­en­wis­sen­schaft­ler und Publi­zist in Basel. www.matthiaszehnder.ch

Tagung des Bundes­amts für Kultur und Swiss­Foun­da­ti­ons: «Wie kommt Kultur künf­tig zu den Menschen?»
Datum: 26. August 2021
Zeit: 9.00 Uhr bis 16.30 Uhr
Ort: Altes Spital Solo­thurn
Live­stream: Die Veran­stal­tung kann live über den Youtube-Kanal von Swiss­foun­da­ti­ons verfolgt werden.

zVg: Swiss­Foun­da­ti­ons
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