The Philanthropist: Soziale Medien, Internet, Newsletter – Kultur kann sich heute direkt an ihr Publikum richten. Braucht es noch einen Kulturjournalismus?
Matthias Zehnder: Ja, Kultur kann sich, wie die Politik, die Wissenschaft oder jedes Unternehmen, direkt an ihr Publikum richten. Journalismus braucht es trotzdem, aus drei Gründen.
Erstens setzt es Vorwissen und ein bereits bestehendes Interesse voraus, damit jemand die Website eines Museums oder eines Theaters aufsucht oder einer Kulturinstitution in den Sozialen Medien folgt. Medien wie Tageszeitungen, das Radio oder auch Internetmagazine machen ihre Nutzer* innen mit Dingen bekannt, von denen sie bisher nicht wussten, dass sie sich dafür interessieren. Das ist die vielleicht wichtigste Leistung von Medien: Sie ermöglichen es dem Publikum, über seine eigenen Ränder hinaus zu lesen.
Zweitens schaffen die Kulturanbieter auf ihrer Website, im Newsletter oder in den sozialen Medien immer nur Zugang zu ihrem eigenen Kulturangebot. Man sieht quasi immer nur einen Baum aufs Mal. Kultur ist aber nicht eine Summe von Bäumen, sondern ein Wald, also ein Geflecht, ein Netzwerk von kulturellen Interventionen. Diese Interaktionen kann nur Kulturjournalismus sichtbar machen.
Drittens gehört zum Kulturjournalismus seit je die Kritik. Das umfasst nicht nur die kritische Auseinandersetzung mit einem kulturellen Angebot, sondern auch das Erschliessen des Angebots durch Einordnung und Erläuterung. Glaubwürdig ist Kritik nur, wenn sie unabhängig von Aussenstehenden geleistet wird.
Das gilt für den Journalismus allgemein. Dieser ist generell in der Krise. Hat der Kulturjournalismus hier eine Sonderstellung?
Kleine Korrektur: Nicht der Journalismus ist in der Krise, sondern seine Finanzierbarkeit, weil die bisherigen Geschäftsmodelle nicht mehr funktionieren. Zum Problem für den Journalismus wird das, weil die Newsrooms der grossen Medien sich stark auf das Internet ausgerichtet haben: Es zählt der schnelle Klick, nicht der langfristige Leseerfolg. Kulturjournalismus hat da schlechte Karten: Kultur ist schlecht boulevardisierbar. Deshalb haben die meisten Zeitungen ihren Kulturteil abgeschafft. Die Seiten heissen jetzt «Piazza» oder «Kultur & Leben» und reduzieren Kultur gern auf Blockbuster-Themen und Glanz&Gloria.
Was nicht performt, fliegt raus. Deshalb gibt es keine Literatur im Discounter – und auch nicht mehr in den Medien.
Matthias Zehnder
Wo findet der Kulturjournalismus überhaupt noch statt?
Die meisten Tageszeitungen haben noch Kulturteile und auch SRF bietet, insbesondere auf SRF 2 Kultur, natürlich Kultur. Mit einer grossen Einschränkung: Die meisten Schweizer Tageszeitungen gehören heute entweder zu CH Media oder zu Tamedia. Das bedeutet, dass eine Zentralredaktion die überregionalen Inhalte für alle Titel aufbereitet. Lokal vor Ort arbeitet nur noch eine Lokalredaktion. Kultur ist aber in den meisten Fällen ein «Mantelthema». Das bedeutet zum Beispiel, dass in allen Tamedia-Titeln gleichzeitig dasselbe Buch oder derselbe Film besprochen wird. Dabei muss es sich natürlich um ein Thema handeln, das in allen Zeitungen funktioniert. Das hat dazu geführt, dass die Kulturberichterstattung ihre lokalen Wurzeln verloren hat. Die meisten Kulturteile sind heute Hors-Sol-Produkte, die überall in der Schweiz funktionieren müssen.
Es fehlt also die lokale Kulturberichterstattung?
Zwar gibt es eine Reihe von kleinen, lokalen Magazinen und Internetangeboten, die versuchen, in die Lücke zu springen. Viele dieser Versuche scheitern aber an mangelnden Mitteln. Lokaljournalismus lässt sich ausschliesslich über Benutzer*innen kaum finanzieren, weil die Märkte dafür in der Schweiz zu klein sind. Viele Kulturstiftungen können oder wollen Medien aber (noch) nicht unterstützen, weil das in ihrem Stiftungszweck nicht vorgesehen ist – und wohl auch, weil Medienangebote immer gesellschaftlich kontroverser sind als Kulturprojekte.
Wer soll denn die Berichterstattung bezahlen?
Sinnvoll wäre es, wenn ein Teil der Gelder, die in die Kultur fliessen, für Journalismus über Kultur zur Verfügung stünde. Ich denke an eine Grössenordnung von etwa fünf Prozent. Journalismus über Kultur muss zu einem selbstverständlichen Teil der Kultur werden, der nicht nur mitgedacht, sondern auch mitfinanziert wird. Natürlich darf das Geld nicht direkt von Kulturanbietern an Medien fliessen. Dafür braucht es Intermediäre, zum Beispiel in Form von kantonalen Stiftungen, die einen kulturellen Service public unterstützen.
Fehlt nicht einfach die Leserschaft und damit die Nachfrage?
Es ist wohl weniger eine Frage der Leserschaft, als der ökonomischen Modelle. Die meisten Medien in der Schweiz setzen heute im Internet auf Reichweite. Dazu gehört leider immer mehr auch SRF. Anders als bei Zeitungen geht es dabei nicht nur um die Reichweite des gesamten Produkts, sondern auch um die Reichweite jedes einzelnen Inhalts. Die meisten Medien arbeiten im Internet wie ein Discounter im Retailgeschäft: Was nicht performt, fliegt raus. Deshalb gibt es keine Literatur im Discounter – und auch nicht mehr in den Medien.
Kulturjournalismus kann spannend, interaktiv und inklusiv sein. Und manchmal darf Kulturjournalismus auch heute anspruchsvoll bleiben.
Matthias Zehnder
Aber ist Kulturjournalismus nicht oft einfach sehr elitär und zielt an den Menschen vorbei?
Als Medien Einweg-Veranstaltungen waren und das Publikum sich allenfalls in einem Leserbrief mal Luft verschaffen konnte, neigte Kulturjournalismus in der Tat zu einem Ex-Cathedra-Stil: Alter Mann weiss es besser. Diese Zeiten sind aber schon lange vorbei. Kulturjournalismus kann spannend, interaktiv und inklusiv sein. Und manchmal darf Kulturjournalismus auch heute anspruchsvoll bleiben.
Welche Bedeutung hat der Kulturjournalismus für die Gesellschaft?
Kulturjournalismus beinhaltet zwei Aspekte: Journalismus über Kultur und Journalismus als Kultur. Beides ermöglicht es der Gesellschaft, sich jenseits der Logik von Wirtschaft und Konsum mit der Welt und dem Menschsein darin auseinanderzusetzen. Anders gesagt: Guter Kulturjournalismus schlägt die Brücke zwischen Kultur und Gesellschaft.
Und diese Brücke bedeutet für die Kultur den Zugang zur Gesellschaft?
Kulturjournalismus kann Kultur erschliessen und erläutern und für eine kritische Auseinandersetzung sorgen. Guter Kulturjournalismus ist Resonanz- und Referenzraum für die Kultur.
Was wären die Folgen, würde Kulturjournalismus verschwinden?
Ohne Kulturjournalismus können nur die ganz grossen Anbieter überleben – also genau jene Player, auf die sich der reichweitenorientierte Kulturjournalismus heute konzentriert.
Dr. Matthias Zehnder ist Medienwissenschaftler und Publizist in Basel. www.matthiaszehnder.ch
Tagung des Bundesamts für Kultur und SwissFoundations: «Wie kommt Kultur künftig zu den Menschen?»
Datum: 26. August 2021
Zeit: 9.00 Uhr bis 16.30 Uhr
Ort: Altes Spital Solothurn
Livestream: Die Veranstaltung kann live über den Youtube-Kanal von Swissfoundations verfolgt werden.