Als Leiterin der Direktion Kultur und Soziales beim Migros-Genossenschafts-Bund ist Hedy Graber eine Kennerin der Schweizer Kulturszene und eine wichtige Kraft in der Förderung der Schweizer Kultur. Die Corona-Krise stellte die neu erarbeitete Förderstrategie auf den Prüfstand.
The Philanthropist: Vor zwei Jahren haben Sie die Förderstrategie in der Kultur überarbeitet. Wie hat sie sich in der Corona-Krise bewährt?
In dieser extrem anspruchsvollen Zeit hat uns in die Hände gespielt, dass wir im April 2020 das Gesuchswesen umstellen wollten. Wir gliedern es seither in Ideation und Diffusion.
Das heisst?
Wir haben Produktionsbudgets studiert und festgestellt, dass in die Entstehungsphase der Projekte – in die Ideation – noch wenig Geld fliesst.
Dabei zeigte sich in vielen Fällen: Wären mehr Mittel in der Recherchephase, zum Ausprobieren, zum Proben zur Verfügung gestanden, wäre die ganze Produktion nachhaltiger aufgestellt gewesen. Deswegen haben wir einen Fokus auf die Ideation gelegt.
Das hat im Lockdown funktioniert?
Ja. Die Menschen konnten nicht raus. Die Kulturschaffenden hatten Zeit, Ideen zu entwickeln. Wir haben sie in ihren Recherchen unterstützt.
Und in der Diffusion?
Das ist unser zweiter Förderbereich. Er ist sehr «Migros-like» – wir wollen quasi mit dem Dutti-Wägeli die Kultur zu den Menschen bringen. Allerdings sind viele Produktionen sehr regional. Oft reichen die Ressourcen bis zur Premiere. Dann fehlt die Möglichkeit, auf Tournee zu gehen. Aber Künstlerinnen und Künstler müssen spielen können, um Erfahrungen zu sammeln. Und das Publikum muss entdecken können. Das soll nicht nur regional geschehen, sondern an verschiedenen Orten.
Und wie hat das im Lockdown funktioniert?
Sehr gut. Uns interessieren ja die neuen, innovativen Ansätze. Wir wollen nicht einfach noch eine Museumsführung mehr finanzieren. Im Lockdown sind viele Projekte ins Netz gewandert. Und wir waren parat, um diese neuen Diffusionskanäle zu unterstützen. Wir konnten enorm viele der neuen Bedürfnisse der Kulturschaffenden absorbieren.
Zur Person:
Hedy Graber leitet seit 2004 die Direktion Kultur und Soziales beim Migros-Genossenschafts-Bund in Zürich. Sie verantwortet die nationale Ausrichtung der kulturellen und sozialen Projekte des Migros-Kulturprozents. Auch verantwortete sie Aufbau und Entwicklung des 2012 geschaffenen Förderfonds Engagement Migros. Ausserdem präsidiert sie den Verein Forum Kultur und Ökonomie. Hedy Graber ist Mitglied des Hochschulrates Luzern, verschiedener Kommissionen, Jurys, Stiftungs- und Verwaltungsräte. 2015 wurde sie als Europäische Kulturmanagerin ausgezeichnet.
Das Kulturprozent ist selbst ja auch Veranstalter. Wie gingen die eigenen Veranstaltungen mit der Pandemie um?
Im März war beispielsweise unser Popmusikfestival m4music geplant. 6000 Teilnehmende hatten wir erwartet. Eine Woche vor dem Termin kam der Lockdown. Wir sind sofort ins Netz gewandert. Wahrscheinlich haben wir damit das erste Corona-Panel für Kulturschaffende veranstaltet. Natürlich war das technisch noch nicht ausgereift. Aber wir haben die wesentlichen Repräsentanten der Szene verbunden.
Wie war das Verhältnis zu den Kulturschaffenden in dieser Phase?
Wir haben unterschätzt, dass sich die Menschen gar nicht mehr trafen. Wir dachten, dass unser Unterstützungsangebot in der Diffusion sich automatisch bekannt machen würde. Wir mussten die Beratung und Betreuung intensivieren. In meiner Wahrnehmung sind wir näher zusammengerückt.
Kulturschaffende stehen vor grossen finanziellen Herausforderungen. Gleichzeitig haben Krisen auch immer ein kreatives Potenzial. Wie erleben Sie die Kulturschaffenden in der Corona-Krise?
Ich sage immer, in der Kultur lernt man mehrheitlich Fragen zu stellen und erwartet nicht sogleich eine Antwort. In der Kultur weiss man, man muss mit Unsicherheiten umgehen können. Dennoch stellt sich die Frage: Weshalb haben Kulturschaffende keine so starke Lobby, weshalb bleiben Skigebiete offen und Museen nicht? Die katastrophalen Auswirkungen auf die Kulturbetriebe werden wir erst noch sehen. Nicht jede und jeder Kulturschaffende ist prädestiniert für ein Konzert für 1000 Follower über einen Instagram-Kanal. Die Herausforderung ist sehr komplex. Antworten werden sich erst sukzessive zeigen. Deswegen versuchen wir jetzt schon konkret zu sein: Wir haben gerade im Klassikbereich ein Projekt lanciert für ein kleines Publikum, geplant für im März. Aber wir denken jetzt schon eine Verschiebung mit und die Gage wird auch ausbezahlt, wenn es am Ende nicht zustande kommt. Diese Verlässlichkeit ist entscheidend.
Was war überhaupt der Auslöser dafür, die Förderstrategie zu überarbeiten??
2012 haben wir den Förderfonds Engagement Migros entwickelt und eingeführt. Und nachdem wir auch die Strategie im Bereich Soziales überarbeitet hatten, war es logisch, die Strategie für die Kulturförderung zu überprüfen. Dabei sehen wir für uns zwei Rollen. Als «Driver» wollen wir mit eigenen Projekten und Ausschreibungen Impulse setzen. Als «Enabler» ermöglichen wir Projekte, die an uns herangetragen werden. Mit der neuen Strategie fördern wir nun nicht mehr nach Sparte – Musik, Theater oder Tanz –, sondern spartenübergreifend. Unser Engagement in der Ideation und der Diffusion sehen wir als Ergänzung zur öffentlichen Hand. Sie ist für das Grundrauschen verantwortlich.
Sie haben die Sparten abgeschafft. Hat sich dies bewährt?
Wir haben sie nicht abgeschafft. Wir haben die interne Organisation angepasst. Die Fachexpertise für die Sparten behalten wir im Haus. Im Förderbereich Soziales unterscheiden wir auch nicht in Sparten wie Gesundheit oder Freiwilligkeit. Auch in der Kultur wollten wir mit der neuen Strategie den Austausch fördern. Unsere Verantwortliche für Film hat jetzt in Solothurn an den Filmtagen mit Story Lab eine neue Form der Förderung vorgestellt. Dabei hat sie sich beispielsweise von ihrem Kollegen in der Musikförderung m4music inspirieren lassen.
Als Teil von Migros steht die Fördertätigkeit in der Öffentlichkeit. Wie beeinflusst dies Ihre Arbeit?
Die Kulturschaffenden suchen zuerst bei der öffentlichen Hand Unterstützung. Dann kommt bereits die Migros. Das finde ich wahnsinnig schön. Das heisst, wir sind eine Art Grundversorger. Natürlich besteht kein Anspruch auf Geld. Aber wir sind extrem stark verankert, auch mit unseren regionalen Genossenschaften. Ob das Migros-Kulturprozent etwas dazu beiträgt, dass jemand bei Migros einkaufen geht, weiss ich nicht. Natürlich wünsche ich mir das. Aber wir sind kein Marketinginstrument. Im Gegensatz zu uns können Stiftungen viel diskreter arbeiten. Was ich aber in den vergangenen 20 Jahren erlebt habe, ist, dass sich der Sektor auch über SwissFoundations extrem stark professionalisiert hat. Es entstehen ganz tolle Initiativen. Transparenz wird geschaffen.
Wie stark prägt es, dass Sie Teil eines privaten Unternehmens sind?
Wir sind umsatzabhängig. Das ist im Gegensatz zu Stiftungen interessant – Migros macht immer Umsatz. Dank einer rollierenden Planung haben wir zudem genügend Vorlauf, um auf Veränderungen zu reagieren.
Der Kickoff im Luzerner Südpol von m2act, dem Förder- und Netzwerkprojekt des Migros-Kulturprozent für die Darstellenden Künste, fand 2020 in hybrider Form statt. (Bild Björn Müller)
Wie messen Sie eine erfolgreiche Förderstrategie?
Wir wollen nicht einfach das machen, was wir cool finden. Wenn wir bei den Menschen nicht ankommen, haben wir verloren. Wirtschaftlich gesprochen heisst das, wenn am Markt kein Interesse besteht, ist unsere Arbeit sinnlos.
Ist der Markt das Publikum oder sind es die Kulturschaffenden?
Unbedingt beide. Wir machen auch keine Projekte im Elfenbeinturm und winken dann, ob sich jemand interessiert. Unsere Projekte sind sehr partizipativ. Beispielsweise bei den darstellenden Künsten lancierten wir 2020 das Projekt m2act. Das Resultat ist nicht ein fertiges Produkt, sondern der Weg dazu, Kollaborationen und Vernetzungen. Kulturschaffende sollen nicht in ihren Silos bleiben. Natürlich gibt es auch harte Fakten, um den Erfolg zu messen. Die quantitative Grösse ist aber nur ein Aspekt. Ein voller Konzertsaal ist okay. Aber die Qualität der Musik ist genauso entscheidend.
Auch in der Kultur sind Frauen oft untervertreten. Beeinflusst die Genderthematik Ihre Förderarbeit?
Natürlich schwingt dieses Thema bei uns immer mit. Aber wir sind nicht politisch korrekt zusammengestellt. Wir haben bspw. keine Tessinerin im Team, damit wir das Tessin vertreten haben – aber wir haben das Thema auf dem Radar. Beispielsweise hatten wir im Migros Museum vor zwei Jahren eine Ausstellung zu Cyberfeminismus. Auch sind in unserer Sammlung sehr viele Frauen vertreten. Das ist uns wichtig.
Wo sehen Sie noch Potenzial?
Ich bin extrem pragmatisch. In meiner Funktion kann ich das Thema fördern. Ich frage in jedem Gremium, wo die Frauen sind. Wir müssen jetzt diverser denken. Dazu gehört die Frage nach neuen Lebensmodellen. Was muss ich machen, damit Menschen mit anderen Lebensentwürfen einen tollen Job machen können? Das geht über das klassische Thema der Vereinbarkeit von Job und Familie. Die verschiedenen Modelle sollen sich in der Arbeitswelt abbilden können. Auf der politischen Ebene ist es mir wichtig, dass die Frauen mehr Sichtbarkeit erhalten. Wir haben die Plattform Helvetiarockt unterstützt, die Frauen in der Musikbranche fördert. Das ist mein Mantra: Frauen müssen sichtbarer werden. Eine solche Plattform hilft, von der Technikerin bis zur Bassistin. Aber der Weg ist noch lang.
«Wir müssen jetzt diverser denken. Dazu gehört die Frage nach neuen Lebensmodellen.»
Hedy Graber
Bei einem durchschnittlichen klassischen Orchester fällt sofort auf, dass der Anteil Frauen nicht repräsentativ ist.
Wenn ich bei unserer Talentförderung die Teilnahme von Musikerinnen bei den Instrumenten sehe, stelle ich fest, es gibt bestens qualifizierte Frauen. Aber wir müssen nicht nur das Orchester anschauen. Wir brauchen ebenso Dirigentinnen und Solistinnen.
Ihre Mutter war die erste Dirigentin der Schweiz. Wie hat Sie das geprägt?
Es hat mich doppelt geprägt. Ich lernte Respekt vor der Kultur. Meine Mutter hat unablässig Klavier gespielt, ob wir das hören wollten oder nicht. Sie hat ihr ganzes Leben in die Kunst investiert. Das hat mich als Kind wahnsinnig beeindruckt. Und dann hat meine Mutter in der damaligen Zeit unglaubliche Erfahrungen gemacht. Als sie 1949 von Genf ans Conservatoire de Paris kam, mussten die Teilnahmebedingungen angepasst werden, damit eine Frau überhaupt dirigieren konnte. Das hat mich geprägt. Ich habe erfahren: Es gab einen Beruf, der für jemanden verboten war.
Wie hat Ihre Mutter dies erlebt?
Sie hat oft in Skandinavien dirigiert. Diese Länder waren in diesem Thema weiter. In der Schweiz war es undenkbar, dass eine Frau den Posten als Dirigentin erhalten hätte. Meine Mutter musste erfahren, was es heisst, der Zeit voraus zu sein. Von einem deutschen Orchester erhielt sie eines Tages eine Absage: «Sehr geehrter Herr Salquin, auch wenn sie eine Frau sind, sprechen wir sie als Herr an» – man wollte keine Frau als Dirigentin.
Und Künstlerin zu werden hat Sie nicht gereizt?
Ich habe Kunstgeschichte studiert. Mich hat früh interessiert, wie gesellschaftliche Zusammenhänge in Bildern eine Darstellung gefunden haben. Und auch die historische Situation meiner Mutter hat bestimmt einen Einfluss gehabt. Aber nein, Künstlerin wollte ich nie werden.