Welchen Stellenwert nimmt die psychische Gesundheit aktuell im Schweizer Gesundheitssystem ein?
Einen hohen. Und einen steigenden. Die Nachfrage nimmt massiv zu. Gerade auch bei jungen Menschen. Sie haben einen hohen Bedarf an Beratung, Unterstützung und auch Therapie. In der Gesundheitspolitik ist das Thema angekommen. Sein Stellenwert hat sich in den vergangenen Jahren deutlich erhöht.
Wer hat das Thema in die Politik getragen?
Das kommt von verschiedenen Seiten, eigentlich aus dem gesamten Umfeld. Wenn wir mit jüngeren Menschen sprechen, schlägt es auf. Schulen und Jugendeinrichtungen melden es. Wir sehen, dass eine hohe Nachfrage bei den Institutionen besteht.
Welche Rolle hat die Pandemie gespielt?
Die Pandemie liegt hinter uns. Die erhöhte Nachfrage nach Angeboten im Bereich psychische Gesundheit ist aber geblieben, vor allem bei Kindern und Jugendlichen. Die Situation normalisiert sich zwar ein wenig, aber der Druck ist weiterhin da. Zeitlich ist die Zunahme mit den Jahren der Pandemie zusammengefallen und man hat zuerst einen Zusammenhang vermutet. Aber das bewahrheitet sich nun nur zum Teil. Die Pandemie war nur ein Treiber, neben weiteren.
Welche Treiber?
Die Leistungserwartungen sind heute hoch und Jugendliche sind der Allgegenwart von Informationen via Soziale Medien auf den verschiedenen Geräten ausgesetzt. Das macht die allgemeine Unsicherheit im internationalen Kontext greifbar. All das zusammen erzeugt Druck. Auch für uns in der Politik ist das anspruchsvoll. Denn wir wollen natürlich auch im Bereich der psychischen Gesundheit eine gute Versorgung garantieren. Wir können zwar sagen, dass wir diese aktuell haben. Allerdings übersteigt heute die Nachfrage das Angebot, das wir leisten können. Insbesondere bei vulnerablen Personen findet sich oft nicht auf Anhieb ein passendes Angebot.
Wer wäre das?
Das sind Menschen mit einer Mehrfachbelastung, beispielsweise traumatisierte Personen mit einer Migrationsgeschichte und mit sprachlichen Schwierigkeiten.
Wie lässt sich dieser Mangel beim Angebot effektiv angehen?
Wir versuchen selbstverständlich, das Angebot zu stärken. Von Kantonsseite unterstützen wir die Angebote in den Spitälern finanziell, namentlich in der Psychiatrie. Aber natürlich müssen wir uns überlegen, wie wir mit unseren Ressourcen noch besser umgehen können. Oft fehlt gerade für jene ein direkter Zugang, die einen besonderen Bedarf haben und in höchster Not sind, weil sie durch die Mehrfachbelastung benachteiligt sind. Wir wollen jenen, die am dringendsten einen Therapieplatz brauchen, diesen auch ermöglichen. Mit einem Ausbau der Kapazitäten können wir ebenfalls helfen. Aber dazu brauchen wir die entsprechenden Fachkräfte und die notwendige Finanzierung.
Kann die Motion Clivaz aus dem Nationalrat helfen?
Sie hat den Bundesrat beauftragt, für die Finanzierung von Organisationen zu sorgen, die national in den Bereichen der psychischen Gesundheit tätig sind. Das Thema ist schon länger in Arbeit. Bund und Kantone arbeiten im Dialog Nationale Gesundheitspolitik zusammen. Auf dieser Plattform haben wir gemeinsam die NCD-Strategie aufgelegt, die Nationale Strategie zur Prävention nicht übertragbarer Krankheiten. In dieser ist die psychische Gesundheit ein wichtiges Element. Jede Staatsebene trägt Verantwortung in ihrem Bereich.
Was machen die Kantone?
Beispielsweise unterstützen wir direkt die Leistungserbringerinstitutionen, vor allem psychiatrische Kliniken, aber auch Selbsthilfe‑, Präventions- und weitere Unterstützungsangebote. Wichtig ist, dass wir auch das Umfeld der Betroffenen im Blick haben. In diesem Zusammenhang unterstützen wir etwa bei der Stiftung Rheinleben eine spezifische Anlaufstelle für Angehörige von psychisch Erkrankten. Die Angehörigen können als Stütze dienen. Auf kantonaler Ebene fangen wir also vieles ab. Unsere Angebote sind aber regional beschränkt. Der Bund weist seinerseits oft darauf hin, dass er keine Rechtsgrundlage hat, um die Finanzierungsverantwortung wahrzunehmen. Das führt verständlicherweise im Bundesparlament zu gewissen Frustrationen.
Der Massnahmenplan der NCD-Strategie 2025 – 28 enthält psychische Gesundheit und Demenz als Schwerpunkt. Was bedeutet dies konkret?
Dies ist ein Referenzrahmen. Auch in den kantonalen Diskussionen können wir uns daran orientieren. Es gibt dem Anliegen Gewicht und stärkt seine politische Legitimation. Das ist für uns hilfreich. Denn auch in der Gesundheitspolitik ringen wir mit anderen Politikbereichen um Aufmerksamkeit und Mittel. Eine gemeinsame Strategie von Bund und Kantonen trägt dazu bei, den Rahmen abzustecken und zu wissen, dass wir alle dieselben Ziele verfolgen. Wir wissen, was die andere Staatsebene macht.
Natürlich schauen wir, welcher Kanton was macht.»
Sehen Sie noch Potenzial in der Prävention?
Wir engagieren uns natürlich schon länger in der Prävention. Aber auch hier können wir noch besser werden.
Wo sehen Sie Ansatzpunkte?
Wir können in andere Lebensbereiche vorstossen. Das Umfeld einer betroffenen Person ist wichtig.
Prävention ist immer mehr als eine Kampagne, als ein Plakat oder ein Tool. Sie muss breit wirken und sich im Umfeld manifestieren. So haben wir beispielsweise breit angelegte kantonale Aktionsprogramme, wo wir mit der Gesundheitsförderung Schweiz zusammenarbeiten. Auch hier ist die psychische Gesundheit ein zentrales Thema.
Ein Beispiel einer solchen Kampagne ist die gelbe Sitzbank mit der Frage «Wie geht’s dir?», die im Eingangsbereich des Gesundheitsdepartements steht. Wie ist die Resonanz auf die Aktion?
Wir versuchen mit der Bank Aufmerksamkeit zu erzeugen. Bei uns im Haus ist die Resonanz gut. Aber wir hätten gerne etwas mehr Reichweite. Dennoch stellen wir fest, dass die Bedeutung der psychischen Gesundheit den Menschen heute bewusst ist. Es wird viel darüber geredet. Zum Glück ist es nicht mehr so tabuisiert wie früher.
Das Thema ist enttabuisiert?
Der offenere Umgang ist in jedem Fall spürbar. Diese Veränderung ist im Gang. Das zeigt sich auch im politischen Umfeld, wo wir mehr Vorstösse in diesem Thema haben. Wir leben in einer Gesellschaft, in der das psychische Wohlbefinden sehr viel stärker thematisiert wird. Wir sprechen es expliziter an. Das ist ein Prozess, den ich sehr begrüsse.
Das Thema hat sich in den vergangenen Jahren verändert.
Wir sprechen klar mehr über das Thema. Auch die Stigmatisierung konnten wir zumindest teilweise überwinden. Wir können heute explizit über die psychische Gesundheit reden und Themen wie Depression benennen. Das ist per se ein Fortschritt.
Bei der Analyse müssen wir aber vorsichtig sein. Inwieweit besteht heute tatsächlich mehr Problemdruck – und was ist der Wahrnehmung geschuldet, weil wir heute offener darüber reden? Das scheint mir noch nicht klar.
Das heisst, die Frage ist, wie stark die Zunahme tatsächlich ist?
Wir haben aktuell die Situation, dass sehr viel eingefordert wird. Da gilt es herauszuarbeiten, welches die reale Zunahme im Vergleich zu den Vorjahren ist. Früher wurde viel einfach ignoriert und verdrängt. Es ist positiv, dass wir uns aktiver damit beschäftigen. Aber wenn es einfacher ist, darüber zu sprechen, gilt es zu klären, ob es auch wirklich mehr Fälle gibt. Es dürfte beides zutreffen: Es sind mehr Fälle und die Zahl potenziert sich noch etwas aufgrund des veränderten Umgangs mit dem Thema, der die Fälle sichtbarer macht. In der Politik kommt dann der Vorwurf, wir würden zu wenig handeln. Natürlich können wir immer besser werden und mehr tun. Aber wir müssen auch dosieren. Wir können nicht den ganzen Kanton auf Gesundheitspolitik ausrichten.
Wie gehen Sie selbst mit Stress um? Sie selbst standen gerade in der Pandemie stark im Fokus. Kamen Sie nie an den Anschlag?
Eigentlich nicht. Es hat einiges sehr anders funktioniert, gerade in der Politik. Aber ich konnte viel Energie aus der Krisenzeit schöpfen. Für mich persönlich empfand ich die Zeit nicht als bedrohlich. Es war aber natürlich schon eine Hochdruckphase, die auch Spuren hinterlassen hat. Ich merke dies zum Beispiel, wenn ich in den Zug steige und mich auch heute noch frage, ob ich eine Maske dabei habe.
Gab es nie Bedrohungs- und Stresssituationen?
Wir hatten inhaltliche Stresssituationen. Beispielsweise als nicht klar war, ob Grenzgängerinnen und Grenzgänger im Gesundheitswesen weiter arbeiten können, wie wir das organisieren und wie wir sie unterstützen können. Schwer auszuhalten war auch, dass wir nicht wussten, wann die Impfung kommt und wie gross die Belastung der Intensivstationen noch werden würde. Aber mich persönlich schwer belastet oder gelähmt haben diese Stresssituationen nicht. Ich habe einen Weg gefunden in der Arbeit und der politischen Tätigkeit, diese Belastung zu bewältigen.
Was hat ihnen geholfen?
Dass ich ein sehr intaktes persönliches Umfeld habe, hat natürlich sehr geholfen. Wir waren nicht von schweren Krankheitsfällen im Umfeld betroffen und hatten keine schwierigen Familiensituationen. Isolationsphasen oder Quarantäne erlebten wir in meiner Familie allerdings auch. Dann wurde es schlagartig anspruchsvoller.
In der Extremsituation Pandemie waren auch die Arbeitgeber gefragt, ihre Mitarbeitenden zu schützen. Unabhängig von der Pandemie ist dies ein Thema, wobei die psychische Gesundheit wahrscheinlich weniger offensichtlich ist als der Schutz vor Unfällen?
Im Forum Betriebliches Gesundheitsmanagement BGM haben wir einen Dialog mit Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern. Das ist sehr wichtig. Denn wir sehen, dass der Ausfall wegen psychischer Erkrankungen eine massive volkswirtschaftliche Bedeutung hat. Im betrieblichen Umfeld ist die Sensibilisierung zentral. Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber müssen wahrnehmen, dass es diese psychische Dimension gibt. Ein Betrieb soll sich bemühen, extreme Drucksitua-tionen zu verhindern. Er soll ein mental gesundes Umfeld schaffen. Da können wir noch mehr anbieten mit Schulungen, Informationen und konkreter Zusammenarbeit. Natürlich ist es einfacher für Grossbetriebe mit professionellen HR-Abteilungen als für KMU.
Sehen Sie auch noch Potenzial in der Zusammenarbeit von Wirtschaft, gemeinnützigem Sektor und Behörden?
Wir pflegen bereits eine gute Zusammenarbeit mit gemeinnützigen Organisationen. Ich habe Gesundheitsförderung erwähnt, aber genauso sind Gsünder Basel oder andere Vereine und Stiftungen für uns wichtige Partner. Die Arbeitswelt ebenso, aber diese Zusammenarbeit ist noch nicht ganz so strukturiert und etabliert.
Gibt es grosse kantonale Unterschiede, wer sich wie engagiert?
Wir haben nationale Kampagnen wie «Wie geht’s dir?» mit einer breiten Trägerschaft. Die mit der Gesundheitsförderung Schweiz kofinanzierten Programme muss jeder Kanton in seinem Rahmen umsetzen. Die Kantone haben unterschiedliche Ausgangslagen, etwa ob die Gemeinden in diesem Bereich etwas übernehmen. Ist das wie bei uns nicht der Fall, übernimmt der Kanton. Natürlich schauen wir, welcher Kanton was macht. Das ist das Gute am Föderalismus. Wir können vergleichen und von den anderen lernen. Das spornt an.
Hat ein urbaner Kanton andere Herausforderungen als ein ländlicher?
Das dürfte so sein. Der urbane Raum gilt als psychisch eher anspruchsvoll, gerade auch für junge Leute. Die Bevölkerungszusammensetzung bringt andere Fragestellungen. In Basel-Stadt haben wir einen hohen Anteil an Einpersonen-Haushalten. Die Menschen sind oft älter oder sogar sehr betagt. Das birgt ein gewisses Einsamkeitsrisiko. Vor zwei Jahren hat eine Erhebung allerdings gezeigt, dass die ältere Bevölkerung in ihrer eigenen Wahrnehmung nicht besonders einsamkeitsbetroffen ist.
Die Migration spielt natürlich ebenfalls eine Rolle. Wir haben viele Menschen mit einer Migrationsgeschichte. Das muss nicht mit einem Trauma verbunden sein, aber es kann. So können auch Sprachbarrieren den Zugang zum Gesundheitswesen erschweren. All das müssen wir mitdenken, wenn wir für die Programme die Angebote formulieren.