Foto: Kostas Maros

Die Entta­bui­sie­rung

Das Thema psychische Gesundheit hat sich in der Gesundheitspolitik etabliert. Der Basler Regierungsrat und Präsident der Schweizerischen Gesundheitsdirektorenkonferenz, Lukas Engelberger, spricht über Treiber, Prävention und die Aufgabenverteilung.

Welchen Stel­len­wert nimmt die psychi­sche Gesund­heit aktu­ell im Schwei­zer Gesund­heits­sys­tem ein?
Einen hohen. Und einen stei­gen­den. Die Nach­frage nimmt massiv zu. Gerade auch bei jungen Menschen. Sie haben einen hohen Bedarf an Bera­tung, Unter­stüt­zung und auch Thera­pie. In der Gesund­heits­po­li­tik ist das Thema ange­kom­men. Sein Stel­len­wert hat sich in den vergan­ge­nen Jahren deut­lich erhöht.

Wer hat das Thema in die Poli­tik getra­gen?
Das kommt von verschie­de­nen Seiten, eigent­lich aus dem gesam­ten Umfeld. Wenn wir mit jünge­ren Menschen spre­chen, schlägt es auf. Schu­len und Jugend­ein­rich­tun­gen melden es. Wir sehen, dass eine hohe Nach­frage bei den Insti­tu­tio­nen besteht.

Welche Rolle hat die Pande­mie gespielt?
Die Pande­mie liegt hinter uns. Die erhöhte Nach­frage nach Ange­bo­ten im Bereich psychi­sche Gesund­heit ist aber geblie­ben, vor allem bei Kindern und Jugend­li­chen. Die Situa­tion norma­li­siert sich zwar ein wenig, aber der Druck ist weiter­hin da. Zeit­lich ist die Zunahme mit den Jahren der Pande­mie zusam­men­ge­fal­len und man hat zuerst einen Zusam­men­hang vermu­tet. Aber das bewahr­hei­tet sich nun nur zum Teil. Die Pande­mie war nur ein Trei­ber, neben weiteren.

Welche Trei­ber?
Die Leis­tungs­er­war­tun­gen sind heute hoch und Jugend­li­che sind der Allge­gen­wart von Infor­ma­tio­nen via Soziale Medien auf den verschie­de­nen Gerä­ten ausge­setzt. Das macht die allge­meine Unsi­cher­heit im inter­na­tio­na­len Kontext greif­bar. All das zusam­men erzeugt Druck. Auch für uns in der Poli­tik ist das anspruchs­voll. Denn wir wollen natür­lich auch im Bereich der psychi­schen Gesund­heit eine gute Versor­gung garan­tie­ren. Wir können zwar sagen, dass wir diese aktu­ell haben. Aller­dings über­steigt heute die Nach­frage das Ange­bot, das wir leis­ten können. Insbe­son­dere bei vulner­ablen Perso­nen findet sich oft nicht auf Anhieb ein passen­des Angebot.

Wer wäre das?
Das sind Menschen mit einer Mehr­fach­be­las­tung, beispiels­weise trau­ma­ti­sierte Perso­nen mit einer Migra­ti­ons­ge­schichte und mit sprach­li­chen Schwierigkeiten.

Wie lässt sich dieser Mangel beim Ange­bot effek­tiv ange­hen?
Wir versu­chen selbst­ver­ständ­lich, das Ange­bot zu stär­ken. Von Kantons­seite unter­stüt­zen wir die Ange­bote in den Spitä­lern finan­zi­ell, nament­lich in der Psych­ia­trie. Aber natür­lich müssen wir uns über­le­gen, wie wir mit unse­ren Ressour­cen noch besser umge­hen können. Oft fehlt gerade für jene ein direk­ter Zugang, die einen beson­de­ren Bedarf haben und in höchs­ter Not sind, weil sie durch die Mehr­fach­be­las­tung benach­tei­ligt sind. Wir wollen jenen, die am drin­gends­ten einen Thera­pie­platz brau­chen, diesen auch ermög­li­chen. Mit einem Ausbau der Kapa­zi­tä­ten können wir eben­falls helfen. Aber dazu brau­chen wir die entspre­chen­den Fach­kräfte und die notwen­dige Finanzierung.

Kann die Motion Clivaz aus dem Natio­nal­rat helfen?
Sie hat den Bundes­rat beauf­tragt, für die Finan­zie­rung von Orga­ni­sa­tio­nen zu sorgen, die natio­nal in den Berei­chen der psychi­schen Gesund­heit tätig sind. Das Thema ist schon länger in Arbeit. Bund und Kantone arbei­ten im Dialog Natio­nale Gesund­heits­po­li­tik zusam­men. Auf dieser Platt­form haben wir gemein­sam die NCD-Stra­te­gie aufge­legt, die Natio­nale Stra­te­gie zur Präven­tion nicht über­trag­ba­rer Krank­hei­ten. In dieser ist die psychi­sche Gesund­heit ein wich­ti­ges Element. Jede Staats­ebene trägt Verant­wor­tung in ihrem Bereich.

Was machen die Kantone?
Beispiels­weise unter­stüt­zen wir direkt die Leis­tungs­er­brin­ger­insti­tu­tio­nen, vor allem psych­ia­tri­sche Klini­ken, aber auch Selbsthilfe‑, Präven­ti­ons- und weitere Unter­stüt­zungs­an­ge­bote. Wich­tig ist, dass wir auch das Umfeld der Betrof­fe­nen im Blick haben. In diesem Zusam­men­hang unter­stüt­zen wir etwa bei der Stif­tung Rhein­le­ben eine spezi­fi­sche Anlauf­stelle für Ange­hö­rige von psychisch Erkrank­ten. Die Ange­hö­ri­gen können als Stütze dienen. Auf kanto­na­ler Ebene fangen wir also vieles ab. Unsere Ange­bote sind aber regio­nal beschränkt. Der Bund weist seiner­seits oft darauf hin, dass er keine Rechts­grund­lage hat, um die Finan­zie­rungs­ver­ant­wor­tung wahr­zu­neh­men. Das führt verständ­li­cher­weise im Bundes­par­la­ment zu gewis­sen Frustrationen.

Lukas Engel­ber­ger, Foto: Kostas Maros

Der Mass­nah­men­plan der NCD-Stra­te­gie 2025 – 28 enthält psychi­sche Gesund­heit und Demenz als Schwer­punkt. Was bedeu­tet dies konkret?
Dies ist ein Refe­renz­rah­men. Auch in den kanto­na­len Diskus­sio­nen können wir uns daran orien­tie­ren. Es gibt dem Anlie­gen Gewicht und stärkt seine poli­ti­sche Legi­ti­ma­tion. Das ist für uns hilf­reich. Denn auch in der Gesund­heits­po­li­tik ringen wir mit ande­ren Poli­tik­be­rei­chen um Aufmerk­sam­keit und Mittel. Eine gemein­same Stra­te­gie von Bund und Kanto­nen trägt dazu bei, den Rahmen abzu­ste­cken und zu wissen, dass wir alle diesel­ben Ziele verfol­gen. Wir wissen, was die andere Staats­ebene macht.

Natür­lich schauen wir, welcher Kanton was macht.»

Sehen Sie noch Poten­zial in der Präven­tion?
Wir enga­gie­ren uns natür­lich schon länger in der Präven­tion. Aber auch hier können wir noch besser werden.

Wo sehen Sie Ansatz­punkte?
Wir können in andere Lebens­be­rei­che vorstos­sen. Das Umfeld einer betrof­fe­nen Person ist wich­tig.
Präven­tion ist immer mehr als eine Kampa­gne, als ein Plakat oder ein Tool. Sie muss breit wirken und sich im Umfeld mani­fes­tie­ren. So haben wir beispiels­weise breit ange­legte kanto­nale Akti­ons­pro­gramme, wo wir mit der Gesund­heits­för­de­rung Schweiz zusam­men­ar­bei­ten. Auch hier ist die psychi­sche Gesund­heit ein zentra­les Thema.

Ein Beispiel einer solchen Kampa­gne ist die gelbe Sitz­bank mit der Frage «Wie geht’s dir?», die im Eingangs­be­reich des Gesund­heits­de­par­te­ments steht. Wie ist die Reso­nanz auf die Aktion?
Wir versu­chen mit der Bank Aufmerk­sam­keit zu erzeu­gen. Bei uns im Haus ist die Reso­nanz gut. Aber wir hätten gerne etwas mehr Reich­weite. Dennoch stel­len wir fest, dass die Bedeu­tung der psychi­schen Gesund­heit den Menschen heute bewusst ist. Es wird viel darüber gere­det. Zum Glück ist es nicht mehr so tabui­siert wie früher.

Das Thema ist entta­bui­siert?
Der offe­nere Umgang ist in jedem Fall spür­bar. Diese Verän­de­rung ist im Gang. Das zeigt sich auch im poli­ti­schen Umfeld, wo wir mehr Vorstösse in diesem Thema haben. Wir leben in einer Gesell­schaft, in der das psychi­sche Wohl­be­fin­den sehr viel stär­ker thema­ti­siert wird. Wir spre­chen es expli­zi­ter an. Das ist ein Prozess, den ich sehr begrüsse.

Das Thema hat sich in den vergan­ge­nen Jahren verän­dert.
Wir spre­chen klar mehr über das Thema. Auch die Stig­ma­ti­sie­rung konn­ten wir zumin­dest teil­weise über­win­den. Wir können heute expli­zit über die psychi­sche Gesund­heit reden und Themen wie Depres­sion benen­nen. Das ist per se ein Fort­schritt.
Bei der Analyse müssen wir aber vorsich­tig sein. Inwie­weit besteht heute tatsäch­lich mehr Problem­druck – und was ist der Wahr­neh­mung geschul­det, weil wir heute offe­ner darüber reden? Das scheint mir noch nicht klar.

Das heisst, die Frage ist, wie stark die Zunahme tatsäch­lich ist?
Wir haben aktu­ell die Situa­tion, dass sehr viel einge­for­dert wird. Da gilt es heraus­zu­ar­bei­ten, welches die reale Zunahme im Vergleich zu den Vorjah­ren ist. Früher wurde viel einfach igno­riert und verdrängt. Es ist posi­tiv, dass wir uns akti­ver damit beschäf­ti­gen. Aber wenn es einfa­cher ist, darüber zu spre­chen, gilt es zu klären, ob es auch wirk­lich mehr Fälle gibt. Es dürfte beides zutref­fen: Es sind mehr Fälle und die Zahl poten­ziert sich noch etwas aufgrund des verän­der­ten Umgangs mit dem Thema, der die Fälle sicht­ba­rer macht. In der Poli­tik kommt dann der Vorwurf, wir würden zu wenig handeln. Natür­lich können wir immer besser werden und mehr tun. Aber wir müssen auch dosie­ren. Wir können nicht den ganzen Kanton auf Gesund­heits­po­li­tik ausrichten.

Wie gehen Sie selbst mit Stress um? Sie selbst stan­den gerade in der Pande­mie stark im Fokus. Kamen Sie nie an den Anschlag?
Eigent­lich nicht. Es hat eini­ges sehr anders funk­tio­niert, gerade in der Poli­tik. Aber ich konnte viel Ener­gie aus der Krisen­zeit schöp­fen. Für mich persön­lich empfand ich die Zeit nicht als bedroh­lich. Es war aber natür­lich schon eine Hoch­druck­phase, die auch Spuren hinter­las­sen hat. Ich merke dies zum Beispiel, wenn ich in den Zug steige und mich auch heute noch frage, ob ich eine Maske dabei habe.

Gab es nie Bedro­hungs- und Stress­si­tua­tio­nen?
Wir hatten inhalt­li­che Stress­si­tua­tio­nen. Beispiels­weise als nicht klar war, ob Grenz­gän­ge­rin­nen und Grenz­gän­ger im Gesund­heits­we­sen weiter arbei­ten können, wie wir das orga­ni­sie­ren und wie wir sie unter­stüt­zen können. Schwer auszu­hal­ten war auch, dass wir nicht wuss­ten, wann die Impfung kommt und wie gross die Belas­tung der Inten­siv­sta­tio­nen noch werden würde. Aber mich persön­lich schwer belas­tet oder gelähmt haben diese Stress­si­tua­tio­nen nicht. Ich habe einen Weg gefun­den in der Arbeit und der poli­ti­schen Tätig­keit, diese Belas­tung zu bewältigen.

Was hat ihnen gehol­fen?
Dass ich ein sehr intak­tes persön­li­ches Umfeld habe, hat natür­lich sehr gehol­fen. Wir waren nicht von schwe­ren Krank­heits­fäl­len im Umfeld betrof­fen und hatten keine schwie­ri­gen Fami­li­en­si­tua­tio­nen. Isola­ti­ons­pha­sen oder Quaran­täne erleb­ten wir in meiner Fami­lie aller­dings auch. Dann wurde es schlag­ar­tig anspruchsvoller.

In der Extrem­si­tua­tion Pande­mie waren auch die Arbeit­ge­ber gefragt, ihre Mitar­bei­ten­den zu schüt­zen. Unab­hän­gig von der Pande­mie ist dies ein Thema, wobei die psychi­sche Gesund­heit wahr­schein­lich weni­ger offen­sicht­lich ist als der Schutz vor Unfäl­len?
Im Forum Betrieb­li­ches Gesund­heits­ma­nage­ment BGM haben wir einen Dialog mit Arbeit­ge­be­rin­nen und Arbeit­ge­bern. Das ist sehr wich­tig. Denn wir sehen, dass der Ausfall wegen psychi­scher Erkran­kun­gen eine massive volks­wirt­schaft­li­che Bedeu­tung hat. Im betrieb­li­chen Umfeld ist die Sensi­bi­li­sie­rung zentral. Arbeit­ge­be­rin­nen und Arbeit­ge­ber müssen wahr­neh­men, dass es diese psychi­sche Dimen­sion gibt. Ein Betrieb soll sich bemü­hen, extreme Druck­si­tua-tionen zu verhin­dern. Er soll ein mental gesun­des Umfeld schaf­fen. Da können wir noch mehr anbie­ten mit Schu­lun­gen, Infor­ma­tio­nen und konkre­ter Zusam­men­ar­beit. Natür­lich ist es einfa­cher für Gross­be­triebe mit profes­sio­nel­len HR-Abtei­lun­gen als für KMU.

Sehen Sie auch noch Poten­zial in der Zusam­men­ar­beit von Wirt­schaft, gemein­nüt­zi­gem Sektor und Behör­den?
Wir pfle­gen bereits eine gute Zusam­men­ar­beit mit gemein­nüt­zi­gen Orga­ni­sa­tio­nen. Ich habe Gesund­heits­för­de­rung erwähnt, aber genauso sind Gsün­der Basel oder andere Vereine und Stif­tun­gen für uns wich­tige Part­ner. Die Arbeits­welt ebenso, aber diese Zusam­men­ar­beit ist noch nicht ganz so struk­tu­riert und etabliert.

Gibt es grosse kanto­nale Unter­schiede, wer sich wie enga­giert?
Wir haben natio­nale Kampa­gnen wie «Wie geht’s dir?» mit einer brei­ten Träger­schaft. Die mit der Gesund­heits­för­de­rung Schweiz kofi­nan­zier­ten Programme muss jeder Kanton in seinem Rahmen umset­zen. Die Kantone haben unter­schied­li­che Ausgangs­la­gen, etwa ob die Gemein­den in diesem Bereich etwas über­neh­men. Ist das wie bei uns nicht der Fall, über­nimmt der Kanton. Natür­lich schauen wir, welcher Kanton was macht. Das ist das Gute am Föde­ra­lis­mus. Wir können verglei­chen und von den ande­ren lernen. Das spornt an.

Hat ein urba­ner Kanton andere Heraus­for­de­run­gen als ein länd­li­cher?
Das dürfte so sein. Der urbane Raum gilt als psychisch eher anspruchs­voll, gerade auch für junge Leute. Die Bevöl­ke­rungs­zu­sam­men­set­zung bringt andere Frage­stel­lun­gen. In Basel-Stadt haben wir einen hohen Anteil an Einper­so­nen-Haus­hal­ten. Die Menschen sind oft älter oder sogar sehr betagt. Das birgt ein gewis­ses Einsam­keits­ri­siko. Vor zwei Jahren hat eine Erhe­bung aller­dings gezeigt, dass die ältere Bevöl­ke­rung in ihrer eige­nen Wahr­neh­mung nicht beson­ders einsam­keits­be­trof­fen ist.
Die Migra­tion spielt natür­lich eben­falls eine Rolle. Wir haben viele Menschen mit einer Migra­ti­ons­ge­schichte. Das muss nicht mit einem Trauma verbun­den sein, aber es kann. So können auch Sprach­bar­rie­ren den Zugang zum Gesund­heits­we­sen erschwe­ren. All das müssen wir mitden­ken, wenn wir für die Programme die Ange­bote formulieren.

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