Die Jugenddelegierte Aya Mohammed Abdullah am zehnten jährlichen High Commissioner’s Dialogue on Protection Challenges am 12. und 13. Dezember 2017. Bild: UNHCR/Jean Marc Ferré

«Der Geruch des Bodens, wenn es regnet»

Aya Abdullah war 14 Jahre alt, als sie Schule, Freundinnen und ihre Heimat Irak über Nacht verlassen musste. Die Umstände machten sie zum Opfer. Mit ihrem Willen nimmt sie ihr Leben selbst in die Hand. Über Syrien und die Türkei kommt sie 2017 in die Schweiz. Zum Flüchtlingstag vom 20. Juni erzählt sie uns von ihrer Flucht und was sie besonders vermisst.

The Philanthropist: Sie muss­ten 2009 wegen des Irak­kriegs aus Ihrer Heimat flie­hen. Haben sie den Moment der Flucht kommen sehen?
Aya Abdul­lah: Ich war damals 14 Jahre alt. Wir hörten die Bomben. Wir sahen Menschen ster­ben. Trotz­dem kam die Flucht für mich über­ra­schend. Meine Eltern hatten sich darauf vorbe­rei­tet. Um uns nicht zu verängs­ti­gen haben sie uns aber im Voraus nichts erzählt.

TP: Was war das Schlimmste?
AA: Wie gesagt, für mich kam es über­ra­schend. Ich habe sogar noch mein Mathe­buch mitge­nom­men; für die Schule am nächs­ten Tag. Das Schlimmste war, die Schule, meine Freun­din­nen und Lehrer zu verlassen.

TP: Hatten Sie danach noch Kontakt?
AA: Sich nicht verab­schie­den zu können war hart. Aber aus Sicher­heits­grün­den wusste niemand davon. Wir hatten keinen Kontakt mehr.

TP: Was vermis­sen Sie am meis­ten?
AA: Zwei Dinge: In unse­rem Haus im Irak hatten wir einen Garten. Am Nach­mit­tag, wenn sich die Sonne senkte – Sie müssen wissen, die Sonne im Irak ist wirk­lich heiss – wenn sich also die Sonne senkte, kamen alle Kinder der Nach­bar­schaft zusam­men. Es waren verschie­dene Ethnien und Reli­gio­nen. Erst auf der Flucht reali­sierte ich das. Damals war das kein Thema. Wir lebten zusam­men in Frie­den, wir spiel­ten im Garten. Dieses Gefühl, das Zusam­men­sein, das gemein­same Essen, das fehlt mir wirk­lich. Und das Zweite, das ich vermisse, ist der Geruch des Bodens, wenn es regnet. Ich erzähle das jeder Person. Und glau­ben Sie mir, es gibt diesen Duft im Irak, der ist einzig­ar­tig und ich vermisse ihn. Ich lebte auf der Flucht in zwei ande­ren Ländern. Aber dieser Geruch des Bodens, wenn es regnet im Irak, das gibt es in keinem Land.

Die äusse­ren Umstände mach­ten mich zum Opfer. Das wollte ich ändern.

Aya Abdul­lah

TP: Sie flohen nach Syrien, später in die Türkei. Gab es auch posi­tive Erfah­run­gen?
AA: Das Leben in den beiden Ländern war sehr unter­schied­lich. Ich kam über Nacht nach Syrien. Aber es gab kultu­relle Ähnlich­kei­ten und ich konnte mit den Menschen spre­chen. Wir haben uns regis­triert. Wir konn­ten in die Schule. Wir muss­ten uns den Umstän­den anpas­sen. Aber wir konn­ten das Leben fortsetzen.

TP: Und dann muss­ten Sie auch aus Syrien in die Türkei flie­hen?
AA: Hier war das Leben komplett anders. Es war eine völlig andere Kultur, eine unbe­kannte Spra­che. Als Teen­ager begriff ich, was es wirk­lich heisst, Flücht­ling zu sein, was mir wegge­nom­men wurde. Ich verstand, was mein Status für meine Ausbil­dung und meine Menschen­rechte bedeu­tete. Wenn wir über posi­tive Erfah­run­gen spre­chen wollen: Was dich nicht umbringt, macht dich stär­ker. Daran glaube ich ganz stark. Ich wurde stär­ker. Ich arbei­tete für das UNHCR. Ich arbei­tete mit ande­ren Flücht­lin­gen. Die äusse­ren Umstände mach­ten mich zum Opfer. Das wollte ich ändern. Ich wollte eine Leader sein. Die Menschen sollen mich nicht nur als Opfer sehen und Mitleid haben. Sie sollen nicht nur die nega­tive Seite kennen lernen.

Aya Moham­med Abdul­lah am Global Refu­gee Forum im Palais des Nati­ons in Genf Das erste Global Refu­gee Forum fand vom 16. Bis 18. Dezem­ber 2019 statt. Bild: UNHCR/Mark Henley
Aya Moham­med Abdul­lah am Global Refu­gee Forum im Palais des Nati­ons in Genf Das erste Global Refu­gee Forum fand vom 16. Bis 18. Dezem­ber 2019 statt. Bild: UNHCR/Mark Henley

TP: Welche Unter­stüt­zung half Ihnen am meis­ten?
AA: Das UNHCR hat uns von Anfang an zusam­men mit verschie­de­nen NGOs und Part­nern gehol­fen. Auch die Regie­run­gen waren hilf­reich um uns Sicher­heit zu geben. Aber vielen Flücht­lin­gen fehlt das Wissen von diesen NGOs. Sie kennen ihre Rechte nicht. UNHCR hat uns bereits bei der ersten Regis­trie­rung 2009 in Syrien beglei­tet. Sie sind auch der Grund, dass wir heute zusam­men mit unse­rem Vater hier in der Schweiz an einem siche­ren Ort leben. Dafür bin ich sehr dankbar.

TP: Können Sie im Alltag das Thema Flucht verges­sen und ein norma­les Leben führen?
AA: Ich bin ein Flücht­ling. Das ist ein Teil von mir. Ich versu­che nicht, das zu verges­sen, sondern zu akzep­tie­ren. Aber natür­lich bin ich noch immer expo­niert, gerade wenn Menschen meinen Flücht­lings­aus­weis sehen. Ich habe Angst vor der Zukunft. Ich frage mich: Wenn ich mein Studium abge­schlos­sen haben werde und mich um eine Stelle bewerbe, werde ich aufgrund von meinem Abschluss bewer­tet oder einfach aufgrund meines Aufenthaltstatus?

Dieses Gefühl, das Zusam­men­sein, das gemein­same Essen, das fehlt mir wirklich.

Aya Abdul­lah

TP: War Bildung für Sie auf der Flucht ein Thema?
AA: Das wich­tigste war natür­lich unsere Sicher­heit. Aber Bildung ist für mich zentral. Für Flücht­linge ist es wahr­schein­lich noch von grös­se­rer Bedeu­tung. Heute sind 70 Millio­nen Menschen auf der Flucht. Die Hälfte davon ist unter 18 Jahren. Wir spre­chen von einer Gene­ra­tion, die ihre Zukunft verliert, wenn wir ihnen keine Chance auf eine Ausbil­dung geben können. Nur so können sie ihr Trauma über­win­den, sich eine Chance für eine Zukunft aufbauen. Dabei geht es nicht nur um Primar­schu­len. Es braucht Mittel- und Ober­stu­fen und auch Univer­si­tä­ten. Viele Flücht­linge können ihre Ausbil­dung nicht abschlies­sen, sei es aufgrund eines Konflikts, sei es weil ihnen ein Papier aus der Heimat fehlt.

TP: Welche Bedeu­tung hat der Ausweis für Sie?
AA: Als ich in der Schweiz die Ausweis­pa­piere als Flücht­ling erhielt musste ich weinen. Es war das erste Mal, dass ich einen Ausweis erhielt, mit dem ich über eine Grenze konnte, ohne gestoppt zu werden. Wer nie auf der Flucht war, statt­des­sen im Land aufwach­sen kann, in dem er gebo­ren wurde kann viel­leicht nicht nach­voll­zie­hen, wie das ist, wenn man sich nicht frei bewe­gen kann.

TP: Haben sich Ihre Erwar­tun­gen, viel­leicht auch Träume, in der Schweiz erfüllt?
AA: Für viele Flücht­linge, die hören, dass sie in ein siche­res Land können, ist dies der Himmel. Dies gilt spezi­ell für die Schweiz. Wir kann­ten natür­lich die Schweiz aus der Werbung. Aber als Flücht­ling ist die Situa­tion ganz anders als wenn jemand als Touris­tin oder zum Arbei­ten kommt. Den ersten Hinder­nis­sen begeg­nete ich an der Univer­si­tät, als man mich nicht zulas­sen wollte. Es fehl­ten mir  Papiere. Ich war wieder am Null­punkt. Ich musste mich entschei­den: Aufge­ben oder einen ande­ren Weg finden. Dieses Land bietet dir so viele Möglich­kei­ten. Aber sie kommen nicht zu dir. Du musst dich dafür einset­zen, hart arbei­ten. Es ist eine ehrgei­zige Gesell­schaft. Nun bin ich das vierte Jahr hier. Ich werde an der Univer­si­tät abschlies­sen, viel­leicht besser als erhofft. Ich bin als Präsi­den­tin in einer NGO enga­giert. Ich kann sagen: Der Schwei­zer Traum lebt. Ich bin der Schweiz extrem dank­bar, dass sie mir und meiner Fami­lie eine sichere Zuflucht gebo­ten hat.

TP: Konn­ten Sie hier so etwas wie ein norma­les Leben errei­chen?
AA: Ich glaube, ich werde kein norma­les Leben haben, bis ich das Gefühl habe, dazu­zu­ge­hö­ren und inte­griert zu sein. Dazu gehö­ren die entspre­chen­den Papiere, die mir das Gefühl geben, dass ich ganz sicher bin in diesem Land, dass mich niemand vertrei­ben kann. Ein 100 prozen­tig norma­les Leben habe ich nicht. Aber ich versu­che, mich zu inte­grie­ren so weit es geht, produk­tiv zu sein für dieses Land um zu zeigen, wie dank­bar dass ich bin.

Mehr zum Welt­flücht­lings­tag am 20. Juni 2021.

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