Das Indi­vi­duum, das Umfeld und das Zusammenspiel

Angebote bei psychischen Problemen sind knapp. Die Psychologin und Leiterin Programmentwicklung bei Gesundheitsförderung Schweiz Cornelia Waser erläutert die Bedeutung der Lebensphasen bei der psychischen Gesundheit.

In der Gesund­heits­för­de­rung erhält das Lebens­pha­sen­mo­dell zuneh­mend Gewicht. Welche Bedeu­tung haben die Lebens­pha­sen bei der psychi­schen Gesund­heit?
Corne­lia Waser: Das Lebens­pha­sen­mo­dell berück­sich­tigt die unter­schied­li­chen Situa­tio­nen, in denen die Menschen leben. Das Umfeld der Menschen ist für das Modell rele­vant. In der frühen Kind­heit ist dies von ande­ren Menschen geprägt als in der Jugend. Ist es zuerst die Fami­lie, gewinnt später die Schule an Bedeu­tung. Aber auch die Heraus­for­de­run­gen ändern sich je nach Lebens­phase. Für diese Heraus­for­de­run­gen gilt es, die Menschen gezielt zu stärken.

Was über­zeugt am Lebens­pha­sen­mo­dell gegen­über ande­ren Ansät­zen?
Es stellt die rich­ti­gen Menschen aus dem Umfeld und die rele­van­ten kriti­schen Lebens­er­eig­nisse ins Zentrum. Das Lebens­pha­sen­mo­dell bietet eine einfa­che Struk­tu­rie­rung. Die Daten weisen auf Themen hin, die eher aufschla­gen als andere. So zeigen sich Unter­schiede. Bei den jungen Frauen bspw. ist das Thema psychi­sche Belas­tung extrem gestie­gen. Das Modell hilft, die Gründe zu eruie­ren, und die Menschen im Umfeld können etwas zur Unter­stüt­zung beitragen.

Die Lebens­phase und das Alter exis­tie­ren nicht isoliert. Wie spie­len die verschie­de­nen Fakto­ren beispiels­weise mit dem Geschlecht oder der Herkunft zusam­men?
Weil wir nicht alle Fakto­ren gleich­zei­tig ange­hen können, haben wir die Frage unter­sucht, ob sich die Fakto­ren hier­ar­chi­sie­ren lassen. Gene­rell lässt sich als Fazit ziehen: Die Wahr­schein­lich­keit ist viel grös­ser, dass die psychi­sche Gesund­heit leidet, wenn mehrere belas­tende Fakto­ren zusam­men­kom­men. Aufgrund der Daten lässt sich jedoch nicht auf eine Hier­ar­chie schlies­sen. Es lässt sich nicht sagen, dass beispiels­weise das Alter, das Geschlecht oder der sozio­öko­no­mi­sche Status beson­ders wich­tig wären. Wobei letz­te­rer zumin­dest in vielen Fällen rele­vant ist: Wer sozio­öko­no­misch schlecht gestellt ist, ist durch­wegs benachteiligt.

Lässt sich die Wirkung der sozio­öko­no­mi­schen Stel­lung für die psychi­sche Gesund­heit erklä­ren?
Ein zentra­ler Faktor für die psychi­sche Gesund­heit ist das Gefühl, dass ich Einfluss nehmen kann.

Und bei sozio­öko­no­misch schlecht gestell­ten Menschen fehlt dieses Gefühl?
Sie haben weni­ger Handlungsspielraum.

Tenden­zi­ell lässt dieses Gefühl der Sinn­haf­tig­keit beim zwei­ten Porsche nach.

Corne­lia Waser

Ist es eine Frage des Geldes?
Geld spielt eine Rolle. Betrach­ten wir das Bera­tungs­an­ge­bot, wenn Sie psychi­sche Probleme haben. Bei von der Kran­ken­ver­si­che­rung finan­zier­ten Leis­tun­gen gibt es eine lange Warte­frist. Wenn Sie die finan­zi­el­len Möglich­kei­ten nicht haben, auf eine andere Bera­tung auszu­wei­chen, müssen Sie diese Warte­zeit erdul­den. Hier wirkt sich das fehlende Geld aus. Aber gene­rell das Gefühl, etwas bewir­ken zu können, wirkt auch unab­hän­gig vom finan­zi­el­len Aspekt. Wenn jemand das Gefühl hat, auch ohne viel Geld einen guten Job zu haben, in dem er oder sie etwas bewir­ken kann, hat das eine grosse Wirkung auf die psychi­sche Gesundheit.

Welche Rolle spielt das Gefühl, Gutes zu bewir­ken – oder sich gar frei­wil­lig zu enga­gie­ren oder zu spen­den?
Ein wich­ti­ger Faktor ist wieder dieses Gefühl, etwas bewir­ken zu können. Für die psychi­sche Gesund­heit ist über­dies die Rezi­pro­zi­tät wich­tig. Wer das Gefühl hat, etwas gege­ben zu haben, kann auch einfa­cher etwas annehmen.

Bin ich eher zufrie­den, wenn die Orga­ni­sa­tion, für die ich arbeite, Gutes tut?
Ja – wir suchen immer nach einer Verbin­dung zum Guten, das ist bei solchen Tätig­kei­ten einfa­cher zu finden.

Die Sinn­haf­tig­keit hilft?
Sie ist sehr wich­tig. Aber es kann auch jemand einen Sinn darin sehen, Geld zu verdie­nen. Es kann für jeman­den genü­gend sinn­haft sein, so viel Geld zu verdie­nen, dass er oder sie sich einen Porsche leis­ten kann. Aber tenden­zi­ell lässt dieses Gefühl der Sinn­haf­tig­keit beim zwei­ten Porsche nach. Luxus wirkt weni­ger nach­hal­tig auf die psychi­sche Gesund­heit. Wer sich für etwas Gemein­schaft­li­ches, Gemein­nüt­zi­ges enga­giert, hat es einfa­cher, die Sinn­haf­tig­keit zu sehen.

Es gibt zwar keine Hier­ar­chie. Aber wie ist die Wech­sel­wir­kung zwischen den verschie­de­nen Fakto­ren Alter, Geschlecht etc.?
Sie verstär­ken sich. Je mehr Druck kommt, desto mehr Stress muss eine Person mana­gen können. Solange alles rund läuft, erträgt jemand den Druck. Es gibt Wech­sel­wir­kun­gen, beispiels­weise im Jugend­al­ter wird Prüfungs­stress gleich­zei­tig mit Heraus­for­de­run­gen rund ums Erwach­sen­wer­den gemeis­tert. Neben Heraus­for­de­run­gen in versch­ei­en­den Lebens­pha­sen gibt es geschlechts­spe­zi­fi­sche Unter­schiede – wie diese ausse­hen und gemeis­tert werden. Mit zuneh­men­dem Alter steigt über­dies die Erfah­rung, Heraus­for­de­run­gen zu meis­tern. Man hat mehr Kompe­ten­zen, um die Balance zu finden und dies auszugleichen.

Muss ich Stress­fak­to­ren abbauen oder kann ich meine Resi­li­enz erhö­hen, um solche Situa­tio­nen zu meis­tern?
Es ist beides. Jede und jeder kann selbst Einfluss nehmen. Aber wenn Sie bereits in einem Umfeld sind, das nicht stimmt, sind die Möglich­kei­ten begrenzt. Deswe­gen setzen wir bei den Lebens­pha­sen in der frühen Kind­heit an. Wenn Sie gestärkt ins Leben star­ten, ist die Chance grös­ser, dass Sie Heraus­for­de­run­gen meis­tern. Bei Menschen, die diese Resi­li­enz nicht aufbauen können, ist das Umfeld stär­ker gefragt, um sie aufzufangen.

Wie sieht der Über­gang zwischen den Lebens­pha­sen aus. Sind dies spezi­ell kriti­sche Momente?
Ein klas­si­sches Beispiel ist der Beginn einer Eltern­schaft. Ein Kind kommt. Das ist ein kriti­scher Über­gang. Medi­zi­nisch ist die Situa­tion heraus­for­dernd. Der Schlaf fehlt. Das Kind stellt das ganze Leben auf den Kopf. Auch der Über­gang von der Puber­tät ins Erwach­se­nen­le­ben ist ein kriti­scher Moment. Der Körper stellt sich um. Man löst sich von den Eltern und muss eigene Bezie­hun­gen aufbauen. Nicht allen gelingt dieser Über­gang reibungs­los. In diesen Situa­tio­nen ist es wert­voll, wenn ein Umfeld aus Eltern und Lehr­per­so­nen unter­stüt­zend helfen kann.

Wie gut ist das Schwei­zer Gesund­heits­sys­tem darauf vorbe­rei­tet, Menschen in verschie­de­nen Lebens­pha­sen bei psychi­schen Proble­men zu unter­stüt­zen?
Im Gesund­heits­sys­tem haben wir gewisse Lücken. Aber es ist nicht das Einzige, das rele­vant ist. Es ist das ganze System, in dem wir uns bewe­gen. Bei Kindern und Jugend­li­chen ist es die Schule, die Fuss­ball­trai­ne­rin, der Onkel, bei der arbei­ten­den Bevöl­ke­rung der Arbeits­platz, die Nach­barn. In diesem Umfeld müssen sich die Betrof­fe­nen gesund bewe­gen können. Genau dort bräuch­ten sie zuerst Unterstützung.

Und wie ist die Situa­tion in der Krise?
Es gibt immer weni­ger Haus­ärz­tin­nen und Haus­ärzte. Sie wären als erste Ansprech­per­so­nen wich­tig. Heute muss man gleich auf den Notfall im Spital. Bei psychi­schen Proble­men ist das wenig geeig­net. Dort kennt einen auch niemand. Hat jemand psychi­sche Probleme und ist über­zeugt, dass sowieso keine Ansprech­per­son verfüg­bar ist, wird er oder sie eher viel zu spät Hilfe suchen. Auch die allge­meine Vernet­zung hat Poten­zial. An wen kann sich ein Arbeit­ge­ber wenden, wen kann die Haus­ärz­tin beizie­hen, wenn sie nicht mehr weiter weiss? Ein gros­ses Problem ist, dass diese Vernet­zungs­ar­bei­ten nicht bezahlt werden.

Gibt es keine Ansätze, um dies zu fördern?
Es gibt erste Projekte auf Gemein­de­ebene, die Vernet­zungs­mass­nah­men für ältere Menschen oder Klein­kin­der fördern.

Dem gröss­ten Teil, auch den jungen Menschen, geht es gut.

Corne­lia Waser

Soll­ten sich Stif­tun­gen hier verstärkt enga­gie­ren?
Ja. Solche Vernet­zungs­pro­jekte werden häufig mit der Unter­stüt­zung von Stif­tun­gen möglich. Auch nieder­schwel­lige Projekte, die in der Gemeinde ange­bo­ten werden, sind wich­tig. Das Erzähl­café ist ein typi­sches Beispiel. Eine mode­rierte gemüt­li­che Gesprächs­runde. Sehr viel frei­wil­li­ges Enga­ge­ment macht dies möglich, und es spricht viele an. Die Teilnehmer:innen können sich austau­schen und alle kommen zu Wort. Das kann schon wahn­sin­nig viel bewirken.

Welches Poten­zial hat Künst­li­che Intel­li­genz, KI? Könnte eine KI beispiels­weise beim Erzähl­café den Part des Gegen­übers über­neh­men?
Beim Erzähl­café geht es ums Erzäh­len, ums Reflek­tie­ren. Dazu brau­che ich keine KI. Ein Ersatz wäre, einfach die Geschichte aufzuschreiben.

Ist das Erzähl­café nicht mehr?
Der andere Aspekt neben dem Erzäh­len ist das «Spüren». Das Zusam­men­sein mit Menschen kann uns spür­bar guttun. Das kann KI nicht. Aber sie kann uns beispiels­weise animie­ren, dass wir uns über­haupt hinset­zen und zu schrei­ben begin­nen. Da hat KI Poten­zial. Aber beim Gemein­schaft­li­chen sehe ich das nicht.

Sehen Sie Poten­zial in der Präven­tion, in der Diagnose oder der Früh­erken­nung von Proble­men?
In der Selbst­dia­gnose könnte ich mir den Einsatz von KI vorstel­len. Ich fülle einen Frage­bo­gen aus und erhalte Tipps. Das ist ein Schritt mehr. Die KI würde Unter­stüt­zung bieten. Das muss natür­lich sorg­fäl­tig umge­setzt werden.

Kann KI auch nega­tive Effekte, etwa, dass KI uns das Gefühl gibt, ersetz­bar zu sein?
Dieses Gefühl betrifft wahr­schein­lich noch wenige. Gerade bera­tende Berufe werden aktu­ell noch stark gebraucht. Wir erle­ben ja einen Fach­kräf­te­man­gel. Aber es wird sicher Aufga­ben geben, die ersetzt werden können.

KI wurde welt­weit als radi­kale Verän­de­rung bezeich­net. Verun­si­chern solche Entwick­lun­gen?
Welt­weit verän­dern sich aktu­ell so viele Dinge, auf die wir keinen Einfluss nehmen können. Das löst ein Gefühl der Ohnmacht aus. Das ist belastend.

Ein solches Ereig­nis war die Pande­mie. Wirkt sie noch nach?
Die Pande­mie hat die Menschen verun­si­chert. Einige fanden erst in Verschwö­rungs­theo­rien wieder Sicher­heit. Die Commu­ni­ties in den Sozia­len Medien haben dies noch verstärkt. Das wirkt noch nach.

Wie schät­zen Sie aktu­ell die psychi­sche Gesund­heit der Bevöl­ke­rung in der Schweiz ein?
Auch wenn wir oft über die nega­ti­ven Dinge spre­chen, geht es der Mehr­heit insge­samt sehr gut. Dem gröss­ten Teil, auch den jungen Menschen, geht es gut. Der Anteil der Menschen, denen es gut geht, nimmt auch von Lebens­phase zu Lebens­phase zu. Erst am Ende, wenn wir auf Unter­stüt­zung ange­wie­sen sind, nimmt sie wieder ab. Aber es gibt einzelne Grup­pen, wie etwa junge Frauen, bei denen die Fälle von psychi­scher Belas­tung zuge­nom­men haben. Das zeigen auch die langen Warte­zei­ten bei Bera­tungs­an­ge­bo­ten oder die Zunahme bei der IV aufgrund der phychi­schen Krank­hei­ten. Das ist hand­fest. Das müssen wir angehen.

Wo sehen Sie Verbes­se­rungs­po­ten­zial?
Fach­kräfte finden sich nicht über Nacht. Wir brau­chen nieder­schwel­lige Massnahmen.

Zum Beispiel?
Mit früh­zei­ti­ger Wahr­neh­mung können wir selber oder das Umfeld eine proble­ma­ti­sche Entwick­lung fest­stel­len. Dann braucht es erreich­bare Hilfe­stel­lun­gen. Wenn wir immer kommu­ni­zie­ren, dass die Versor­gung über­las­tet ist, gibt es viele Menschen, die sich davon abge­schreckt fühlen und gar nicht erst versu­chen, Hilfe zu erhal­ten. Bei den nieder­schwel­li­gen Bera­tungs­an­ge­bo­ten per Tele­fon sehe ich Poten­zial. Sie werden aktu­ell über­rannt. Niemand will nieder­schwel­lige Ange­bote finan­zie­ren. Aber eigent­lich wäre es genau hier, wo wir ausbauen müssten.

Dann hat die Hemm­schwelle, sich bei einer Tele­fon­be­ra­tung Hilfe zu holen, abge­nom­men?
Wenn jemand keinen Termin bei einer Psycho­lo­gin oder einem Psycho­lo­gen bekommt, dann ruft er eine Tele­fon­be­ra­tung an. Gerade auch im Alter fehlen Möglich­kei­ten zum Austausch zuse­hends. Hier unter­stüt­zen wir gemein­sam mit einer Stif­tung ein Projekt mit einem Ange­bot für ältere Menschen.

Nieder­schwel­lige Ange­bote können also eine grosse Wirkung haben?
Es braucht manch­mal nicht viel. Es können einfa­che Dinge aus der Krise helfen. Es ist wich­tig, dass nicht nur das Indi­vi­duum und nicht nur das Umfeld entschei­dend sind. Beides und das Zusam­men­spiel sind wich­tig. Einfa­che Botschaf­ten können helfen. Eine nette Nach­ba­rin, die einen anlacht, kann helfen.

Heisst das umge­kehrt, dass einfa­che Dinge in die Krise führen können?
Nein. Ein Nach­bar, der ohne grüs­sen vorbei­läuft, stürzt einen nicht gleich in eine Krise.

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