«Das Jahr 2021 hätte ein Jahr der Einigkeit und Stärkung sein sollen. Stattdessen brachte es noch grössere Ungleichheit und Instabilität hervor – ein auf Jahre hinaus toxisches Erbe», sagt Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International. Weshalb ist diese Entwicklung weltweit zu verzeichnen? Amnesty International glaubt, das Versagen in der Pandemie und die eskalierenden Konflikte seien auf die Lähmung multilateraler Gremien und auf die fehlende Rechenschaftspflicht für einflussreiche Staaten zurückzuführen.
Das Jahr 2021 hätte ein Jahr der Einigkeit und Stärkung sein sollen. Stattdessen brachte es noch grössere Ungleichheit und Instabilität hervor – ein auf Jahre hinaus toxisches Erbe.
Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International
Versagen bei der Covid-Bekämpfung
Insbesondere in der Covid-Bekämpfung stellt Amnesty International in der Umsetzung das Fehlen einer internationalen Strategie fest. Diese ungenügende Pandemiebekämpfung habe Voraussetzungen für weitere Konflikte und weiteres Unrecht begünstigt, so Agnès Callamard. Das Miteinander fehlte. So horteten reichere Staaten wie die USA, die Schweiz oder weitere EU-Länder Impfdosen über die tatsächlich benötigte Menge hinaus. Ärmere Länder sind so an einem fairen Zugang zur Impfung gehindert worden. Viele dieser Staaten haben zudem mit dem Zerfall ihrer Gesundheitssysteme und dem Mangel an wirtschaftlicher Unterstützung sowie Sozialleistungen aufgrund langwährender Unterfinanzierung zu kämpfen. Staaten hätten zudem die Pandemie instrumentalisiert um kritische Stimmen zu unterdrücken, schreibt Amnesty International. Dadurch seien vergangenes Jahr die Menschrechte untergraben worden.
Lähmung multilateraler Gremien
In bestehenden und neuen Konflikten, in Afghanistan, Israel, Libyen oder im Jemen, litten die Menschen unter der Verletzung des humanitären Völkerrechts und der internationalen Menschenrechtsnormen. Amnesty International stellt ein Unvermögen fest, solche Konflikte gemeinsam auf globaler Ebene zu lösen. So schaffte es der UNO-Sicherheitsrat nicht, auf Menschenrechtsverletzungen in Myanmar sowie Afghanistan oder auf Kriegsverbrechen in Syrien zu reagieren. «Weil eine internationale Reaktion oft fehlte oder zu spät erfolgte, konnten sich Konflikte stetig ausbreiten. Immer mehr und immer unterschiedlichere Parteien beteiligten sich», sagt Agnès Callamard und fügt hinzu: «Die globale Stabilität wurde an den Rand des Zusammenbruchs getrieben.»
Weil eine internationale Reaktion oft fehlte oder zu spät erfolgte, konnten sich Konflikte stetig ausbreiten.
Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International
Unterdrückung unabhängiger Stimmen
Amnesty International beklagt weiter, dass weltweit freie und kritische Stimmen immer mehr unterdrückt werden. So haben mindestens 67 Länder im letzten Jahr neue Gesetze zur Einschränkung der Rechte auf Meinungs‑, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit erlassen. In Russland beobachtet die Menschenrechtsorganisation, dass die Regierung bereits mit automatischer Gesichtserkennung arbeitet, um friedliche Protestierende in grossen Mengen festzunehmen. Doch es ist nicht das einzige Land, das die digitale Überwachung weiter ausbaut. In China setzen die Behörden teilweise auf eine umfassende Internetzensur, um kritische Stimmen zu unterdrücken.
Soziale Bewegungen und fortschrittliche Schweiz
Trotz gesamthaft schlechter Entwicklung verzeichnete Amnesty International im vergangenen Jahr auch Erfolge. Viele Menschen gehen überall auf der Welt auf die Strassen, um gegen Ungerechtigkeiten, den Klimawandel oder Unterdrückungen zu demonstrieren. Auch Amnesty International engagiert sich für das Anerkennen des Rechts auf eine saubere, gesunde und nachhaltige Umwelt.
Wir erleben eine nie dagewesene Mobilisierung für ein Gesetz, das Betroffene besser vor sexualisierter Gewalt schützen soll.
Alexandra Karle, Geschäftsleiterin von Amnesty Schweiz
In der Schweiz kämpften einige Betroffene, Organisationen und weitere Persönlichkeiten für ein zeitgemässes Sexualstrafrecht. Es soll auf dem Prinzip der Zustimmung basieren. Alexandra Karle, Geschäftsleiterin von Amnesty Schweiz, sagt: «Wir erleben eine nie dagewesene Mobilisierung für ein Gesetz, das Betroffene besser vor sexualisierter Gewalt schützen soll.» Dies hatte prägende Wirkung auf die Gesetzesvorlage. Wichtige Fortschritte stellt Amnesty Schweiz auch beim Thema Diversity fest. Das Schweizer Stimmvolk hat die Vorlage «Ehe für alle» im vergangenen Jahr deutlich angenommen. Und das Parlament verabschiedete zudem die Schaffung einer nationalen Menschenrechtsinstitution (NMRI). Laut Alexandra Karle ein Meilenstein für die Menschenrechte in der Schweiz.