The Philanthropist: Sie erhalten für Ihr Lebenswerk den diesjährigen Hans Erni Preis. Sehen Sie ihn als Auszeichnung für das Erreichte oder ist er mehr Ansporn, weiterzumachen?
Sigrid Lüber: Für mich ist der Preis beides. Er zeichnet Menschen aus, die fortschrittlich denken und handeln. Und er geht an Menschen, die sich für Gerechtigkeit und für den Erhalt einer gesunden Umwelt einsetzen. Diese Auszeichnung zu erhalten, bedeutet mir sehr viel. Auch weil ich mit Hans Erni einmal persönlich in Kontakt war und ich diese Begegnung sehr wertvoll fand.
Wann war das?
Seine Lithografie «Mensch und Delphin» bringt eine Symbiose zwischen Mensch und Delfin zum Ausdruck, wie es in einer harmonischen Gemeinschaft wünschenswert wäre. 2007 haben wir mehrere Kunstdrucke von Hans Erni erhalten. Damit unterstützte er den Meeresschutz, denn der Erlös des Verkaufs floss in unsere Projekte. Damals waren wir noch eine kleine Organisation mit einem Budget von knapp 400’000 Franken. Der Kontakt mit Hans Erni war wahnsinnig schön. Dass ich nun diesen Preis erhalte, ist eine grosse Ehre für mich.
Der Hans Erni Preis wird uns anspornen, uns noch mehr für den Schutz der Meere zu engagieren.
Sigrid Lüber, Gründerin OceanCare
Gerechtigkeit und Umwelt sind die Themen, für die Sie sich mit OceanCare einsetzen.
Es ging mir von Anfang an auch um Gerechtigkeit; Gerechtigkeit für die Tierwelt und die Meereswelt. Und ich wollte etwas Konkretes bewirken und auf der Ebene der Gesetzgebung etwas verändern. Diese Ebene bietet den grössten Hebel für Veränderung, besonders auch für kleinere Organisationen. Der Hans Erni Preis wird uns anspornen, uns noch mehr für den Schutz der Meere zu engagieren, die für uns alle so wichtig sind. Das Preisgeld von 50’000 Franken wird in ein Projekt zur Eindämmung der Plastikverschmutzung fliessen – in der Schweiz und weltweit. Ein Anliegen, das Hans Erni sicher unterstützt hätte. Über den Wasserkreislauf sind wir alle mit den Meeren verbunden. Über Flüsse und Seen gelangen Nähr- und Schadstoffe in die Meere.
Die Schweiz kann also auf ihrem eigenen Gebiet Verantwortung für den Meeresschutz übernehmen?
Ganz genau. Wir haben auch ein Umweltgesetz. Mit diesem könnte der Bundesrat unnötiges Einwegplastik, das für die Umwelt schädlich ist, verbieten. Nur wurde der entsprechende Gesetzesartikel in den letzten 40 Jahren noch nie angewendet. Und dies, obschon es bereits mehr als 70 Vorstösse im Parlament gab, um das Plastikproblem in der Schweiz endlich anzugehen. Der Bundesrat glaubt immer noch, dass die Wirtschaft dies regeln werde. Wir sind der Meinung, dass die Plastikindustrie hier in die Pflicht genommen werden muss.
Plastik, Unterwasserlärm oder Tiefseebergbau – ist der Meeresschutz heute komplexer als vor 30 Jahren, als die Rettung von Delfinen und Walen im Fokus stand?
In letzter Zeit sind viele neue Gefahren für das Meer hinzugekommen. Aber noch haben viele Menschen die romantische Vorstellung, dass wir für alle Probleme eine technische Lösung finden werden, ohne dass wir unsere Lebensweise anpassen oder verändern müssten. Denn das fällt uns allen schwer. Ich hatte mich allerdings schon früh um Themen gekümmert, die nicht Mainstream waren. Beispielsweise habe ich schon 1997 das Gesundheitsrisiko durch den Walfleischkonsum thematisiert. Ich war die erste, die das Thema vor der Internationalen Walfangkommission IWC eingebracht hat. Ich war überzeugt, dass weniger Wale gejagt würden, wenn wir Ländern wie Norwegen, Island oder Japan, etc. aufzeigen können, dass der Verzehr von Walfleisch schädlich ist. Weil Wale zuoberst an der Nahrungskette stehen, ist ihr Fleisch teilweise stark mit Schadstoffen belastet.
Wie sind Sie vorgegangen?
In Japan haben wir mit der Konsumentenschutzorganisation Safety First zusammengearbeitet. Jeden Monat haben sie als sehr kleine Organisation einen Vortrag an einer Universität über das Gesundheitsrisiko des Walfleischkonsums gehalten, mit dem Resultat, dass nach nur einem Jahr aufgrund dieses neuen Verständnisses rund 60 Prozent weniger Walfleisch konsumiert wurde.
Ich habe immer versucht, Hebel zu finden, statt Fronten aufzubauen.
Sigrid Lüber
Das ist Ihr Ansatz.
Ich habe immer versucht, Hebel zu finden, statt Fronten aufzubauen.
Das hat funktioniert?
Ja, wir haben uns auch für mehr Transparenz und gegen den Stimmenkauf eingesetzt und erreicht, dass Mitgliederbeiträge und Teilnahmegebühren nicht mehr bar, sondern über ein offizielles Regierungskonto bezahlt werden mussten. So konnte die Praxis unterbunden werden, dass Japan kleine Inselstaaten oder Entwicklungsländer zur Teilnahme an der Walfangkommission eingeladen hat, und für Wortmeldungen die den Walfang unterstützten, Entwicklungshilfe im Fischereisektor erhielten. Ich habe mit diesen Ländervertretern gesprochen und ihnen erklärt, dass es ein Menschenrecht sei, die eigene Meinung zu bilden und zu äussern.
Ein weiteres Thema für das ich mich schon vor 20 Jahren eingesetzt habe, war die Partizipation der Zivilbevölkerung – einem Bereich, in dem es sehr viel Willkür gab. Unsere Analyse wurde als Referenzdokument in einer Arbeitsgruppe, die sich mit den Rechten und Pflichten der NGOs befasste. Wo früher sogar Briefings vom Sekretariat freigegeben werden mussten, können heute NGOs zu allen Traktanden Wortmeldungen einbringen. Aber es stimmt, es sind heute so viele neue und dringende Themen wie Tiefseebergbau, Geoengineering und viele mehr hinzugekommen. Deswegen ist es gut, dass wir heute ein Team von ausgewiesenen Expert:innen in Meerespolitik und Wissenschaft haben.
Es fühlte sich an wie die Ewigkeit. Es gibt diese Momente im Leben, in denen man denkt, jetzt ist alles erfüllt.
Sigrid Lüber
Was hat Sie damals zu diesem Schritt bewegt?
Es war auf einem Tauchgang im Indischen Ozean. Ich war mit meinem Mann, er war Tauchlehrer, im Wasser. Während des ganzen Tauchgangs hörten wir Delphine. Aber wir sahen sie nicht. Am Ende unseres Tauchgangs signalisierte mir mein Mann, dass wir ins Blaue, weg vom Riff schwimmen sollten. Und plötzlich tauchte vor uns eine Gruppe von 50 bis 60 Delphinen auf. Die Tiere schwammen auf uns zu und teilten sich um uns. Dieser Moment hat mich verzaubert. Es fühlte sich an wie die Ewigkeit. Es gibt diese Momente im Leben, in denen man denkt, jetzt ist alles erfüllt.
Daraufhin haben Sie OceanCare gegründet?
Nach dem Auftauchen sagte ich meinem Mann: Ich will mich im Meeresschutz engagieren, für diese Tiere, für diesen Lebensraum. Zurück in der Schweiz sprach ich mit meinem Chef und sagte, dass ich die Arbeitszeit reduzieren müsse. Teilzeitarbeit war damals noch keine Selbstverständlichkeit. Dennoch konnte ich mein Pensum auf 80 Prozent reduzieren.
Gab es nie Frustrationen und das Gefühl, dass das Engagement gar nichts bringt?
Nein. Nur nichts machen bringt nichts. Ich war privilegiert, dass ich meine Berufung umsetzen und die dafür notwendige Unterstützung generieren konnte. Zu Beginn hatte ich noch alles selbst bezahlt, zum Beispiel die Teilnahmen an Walfangkonferenzen. 1993 fand diese Konferenz in Kyoto statt. Eine Reise nach Japan war damals zu teuer. Meine Coiffeuse erzählte mir von einer Frau in Klosters, die sich für Tiere einsetzt. Ihr schrieb ich, und sie finanzierte mir die Reise. Dafür habe ich ihr einen ausführlichen Report verfasst, über die intensiven Verhandlungen bis hin zu den Tagesabläufen über meine Arbeit vor Ort. Mein Engagement für den Meeresschutz habe ich nie bereut. Aber ich war ja auch nicht allein. Wir arbeiten im Team, mit all den Menschen, die mich in den vergangenen 36 Jahren und 4 Monaten unterstützt haben. Und seit ich die Geschäftsleitung im Januar 2022 an Fabienne McLellan übergeben konnte, ist für mich jeder Tag ein Highlight. Ich bin stolz und glücklich zu sehen wie sich OceanCare weiterentwickelt.
Dass mein Lebenswerk weitergeht, dass es in den allerbesten Händen ist, ist ein Traum, der wahr geworden ist.
Sigrid Lüber
Fiel es Ihnen leicht, die Verantwortung zu übergeben?
Es ist mir ziemlich leichtgefallen. Schon 2014, als Fabienne bei uns angefangen hat, sah ich sie als meine designierte Nachfolgerin. 2016 begleitete sie mich das erste Mal an eine internationale Konferenz. 2018 war ich das letzte Mal mit dabei. Daraufhin übergab ich ihr den Bereich Internationale Zusammenarbeit – das Herzstück unserer Organisation. Dass mein Lebenswerk weitergeht, dass es in den allerbesten Händen ist, ist ein Traum, der wahr geworden ist. Ich habe mich auch schon im Vorfeld damit auseinandergesetzt, da ich mich ja stark über Arbeit, Erfolg und Leistung definiert habe. Als Präsidentin bin ich immer noch ein Teil der Organisation, aber ich bin nicht mehr die, die Erfolge einfährt, sondern aus dem Hintergrund dazu beiträgt.
Aber Sie sind noch aktiv?
Ich werde im Herbst 70 Jahre alt. Ich war lange im Arbeitsleben. Und auch jetzt bin ich noch 80 Prozent für OceanCare tätig. Ich kümmere mich um die Anliegen unserer Unterstützer:innen. Diese Nähe zur Basis gefällt mir. Und ich werde auch immer wieder um meine Meinung zu strategischen Überlegungen gefragt.
Was waren die schönsten Momente in diesen Jahren?
Es gab viele dieser Momente, etwa wenn das Walfangmoratorium – das jedes Mal auf der Kippe stand – bestehen blieb. Der schönste Moment war jedoch, als mich das UNO-Seerechtsabkommen um Empfehlungen für eine Konferenz zum Unterwasserlärm bat, welche für 2018 geplant war. Ich konnte Input zur Besetzung von unterschiedlichen Fachpanels geben. Es wurden sogar zwei Expert:innen von OceanCare von der UNO ausgewählt. Das war einer der grössten Momente.