Die psychiatrische Versorgung in der Schweiz ist am Anschlag. Und die Probleme werden nicht weniger – Indizien für die prekäre Lage gibt es zuhauf. Mittendrin stehen die Angehörigen und Vertrauten von Menschen mit psychischen Erkrankungen, die Tag für Tag immer wieder Wege finden, um ihren betroffenen Lieben beizustehen. Meist tun sie dies im Stillen, isoliert – oft belastet durch Scham, Überforderung, Wut, Trauer und Erschöpfung. Fernab der öffentlichen Wahrnehmung oder der Profis, die das Versorgungssystem prägen, leisten sie Enormes. Angehörige und Vertrauenspersonen von psychisch erkrankten Menschen sind in vielerlei Hinsicht systemrelevant. Warum das so ist, ist einfach zu erklären: Was das System nicht oder nur bruchstückhaft zu tragen und lösen vermag, landet letztlich auf den Schultern von Vertrauten, Eltern, Kindern, Geschwistern, Partnerinnen und Partnern, – Vertraute von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Sie leisten eine grosse, anspruchsvolle Arbeit. Ohne sie würde das System kollabieren und das Leid der Betroffenen grösser.
59 Prozent der erwachsenen Bevölkerung in unserem Land waren in ihrem Leben bereits einmal in der Rolle der Angehörigen oder Vertrauenspersonen von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Rund die Hälfte davon, nämlich etwa 2,1 Millionen Menschen, befindet sich aktuell gerade in dieser Rolle. Es liegt auf der Hand, festzustellen: Ihr Beitrag ist für Betroffene enorm wichtig und entlastet das System jährlich in Milliardenhöhe. Kosten, die in keiner Statistik auftauchen, aber durchaus in die Statistiken rund um das Versorgungssystem aufgenommen werden müssten. Diese Unterstützungsarbeit fordert ihren Tribut: Rund ein Drittel der Angehörigen erkrankt ob der Belastung selbst. Wenn wir uns nicht um ihre Nöte kümmern, spielen wir «Russisches Roulette» mit der Gesundheit vieler in unserem Land.
Als Angehörigenbewegung Stand by You Schweiz sind wir Teil der Zivilgesellschaft. Wir gehören zu jenen in unserem Land, die durch ihre Freiwilligenarbeit dafür sorgen, dass wir als Gesellschaft zusammenhalten, gedeihen und funktionieren können. Darum sei die These erlaubt: Der Druck auf die psychiatrische Versorgung wird in den kommenden Jahren derart zunehmen, dass die Profis allein (Pflege, klinische Psychiatrie, Sozialarbeit, Kostenträger, NGOs) die Krise nicht bewältigen können. Wir sind als ganze Gesellschaft aufgefordert, Lösungen zu finden, damit unsere Betroffenen in möglichst grosser Selbstbestimmung und mit möglichst vielen Arten der Teilhabe am gesellschaftlichen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben durch den Alltag gehen können.
Die tatsächliche Relevanz der Angehörigen und Vertrauten kontrastiert mit der Erfahrung, die viele von uns alltäglich machen: Wir Angehörigen finden uns allzu oft in einer marginalisierten, von den Profis vom Fach, aber auch bei NGOs gönnerisch abgewerteten Aussenseiterposition. Wir sind allzu oft Bittsteller. Dabei stehen wir voll in der Verantwortung und im Regen, wenn unsere Lieben wieder einmal im Chaos versinken oder sich durch den Alltag kämpfen. Wir sind «case manager», ob es uns gefällt oder nicht. Deshalb möchten wir auch mitgestalten und mehr Mittel bekommen, damit wir unsere Freiwilligenarbeit für Angehörige wirkungsvoll gestalten können. Wir fordern deshalb mehr Anerkennung derjenigen, die wie wir «skin in the game» haben, also mit Haut und Haaren Teil des Versorgungssystems sind. Mit abgeklärtem Profitum allein werden wir in einer Sackgasse landen.
Co-Präsident von Stand by You Schweiz. Der Verein will die Solidarität unter Angehörigen von Menschen mit psychischen Erkrankungen stärken und die Unterstützungsangebote erweitern. Christian Pfister blickt auf langjährige Führungserfahrung in Unternehmenskommunikation, strategischem Marketing und Public Affairs bei grossen Finanzdienstleisterinnen wie Swiss Life, der Winterthur Group und Credit Suisse zurück.